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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Ich verstehe. Je früher, desto besser!“

„Ach, wenn Sie doch graue Haare hätten, Monsieur!“ rief Madame Joß bedauernd.

„Einige habe ich bereits an mir entdeckt! Doch es scheint, sie genügen nicht. Melden Sie dem Fräulein, daß ich noch heute auf die Suche nach einer Wohnung gehe. Ich werde sie so bald als möglich von meiner Anwesenheit befreien.“

Er sagte das ganz heiter und gleichmütig, und Madame Joß konnte demnach ihrer jungen Herrin mit Recht berichten, daß der Leutnant die Kündigung mit ziemlich guter Art aufgenommen habe und nicht sehr verzweifelt scheine. Es sei offenbar viel leichter, einen Mieter hinaus als herein zu bekommen.

„Und wenn wir auch keinen finden!“ meinte Marguerite. „Ich brauche jetzt so wenig.“

Aber Madame Joß teilte diese Auffassung der Sachlage nicht.

*      *      *

In ganz anderer Stimmung als zum erstenmal ging Detlev diesmal aus, eine Wohnung zu suchen. Es war ihm jetzt ganz gleich, wie das „Loch“ aussah, das ihn aufnehmen sollte. Nur gar zu weit entfernt von der Belle-Islestraße sollte es nicht sein. Er mußte es daher für einen immerhin günstigen Zufall halten, als er am Vincenzplatz ein annehmbares Logis entdeckte. Am Vincenzplatz! Schräg gegenüber, mit ihren beiden gotischen Türmen ein Wahrzeichen der Stadtgegend, die Vincenzkirche, in welche die beiden Perrauls und auch Marguerite ja so häufig zur Messe gingen. Wie leicht war es möglich, daß er sie dort eintreten oder herauskommen sah! Er blieb in ihrer Nähe. Da die Wohnung sofort zu haben war, entschloß er sich, bereits am 1. Februar umzuziehen.

Am letzten Tage, den er in seinen ihm lieb gewordenen Zimmern verbrachte, ging er hinüber, von Marguerite, die er seit dem Leichenbegängnis nicht gesehen hatte, persönlichen Abschied zu nehmen. Auf sein Klopfen an der Glasthüre erfolgte keine Antwort, wohl weil droben auf dem Flur die Kinder des Agenten Räuberspiele aufführten und damit jedes andere Geräusch übertönten. Er drückte also die Klinke nieder und trat ein. Das kleine Zimmer war leer, und vom Begräbnis her schien ihm noch ein leiser Weihrauchduft zurückgeblieben zu sein. An der Thüre der Wohnstube klopfte Detlev lauter, und auf das erfolgte „Entrez!“ trat er gedämpften Schrittes ein.

Marguerite saß in einem der Lehnstühle nahe beim Ofen, der einladende Glut ausströmte. Das Zimmer sah aus wie sonst, nur leerer und noch düsterer. Der Vorhang des Alkovens war herabgelassen und bildete den dunklen Hintergrund, von dem sich Marguerites vom Feuer bestrahltes Profil abhob. Frühe Nachmittagsdämmerung verwischte in dem dunkelfarbigen Raum alle Linien und Umrisse und umgab Marguerites Kopf mit einem blassen, flackernden Heiligenschein. Sie war unbeschäftigt. Ihre Hände ruhten müde in ihrem Schoße, und ihr Gesicht hatte den Ausdruck eines verlassenen Kindes, das auf die Heimkehr seiner Mutter wartet.

„Sie sind es?“ sagte Marguerite aufblickend. Sie erhob sich und kam ihm langsam entgegen.

„Ja, ich, der Verstoßene!“ antwortete Detlev. „Störe ich?“

„Worin sollten Sie mich wohl stören? Sie sahen es ja! Ich saß am Feuer und blickte in die Glut.“

Er faßte ihre Hand, und da sie nun in den Bereich des Fensterlichts getreten war, sah er sie mit mitleidiger Prüfung an. „Es thut Ihnen nicht gut, so viel allein zu sitzen … Ich darf Ihnen nicht Gesellschaft leisten, darein muß ich mich ergeben. Aber warum rufen Sie nicht die Damen Perraul herein? Oder die kleine Jeannette?“

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich muß allein sein, ganz allein!“

Er sah sich unwillig in den vier Wänden um. „Hier allein? Und immer allein! Fast möchte ich wünschen, daß Sie mit Madame Morel nach Nancy gegangen wären!“

Sie hatte ihm die Hand entzogen und ging wieder zu ihrem Sitz am Ofen. Detlev folgte ihr. Sie setzte sich und bot ihm einen Lehnstuhl an, der noch die Stellung hatte, in der ein früherer Besuch ihn verlassen haben mochte.

„Sie hätten mir das geraten?“ fragte Marguerite.

„Doch nein! Wenn es Ihnen nicht genehm war – gewiß nicht. Sie haben sicher Ihre guten Gründe gehabt.“

„Morels sind eine sehr heitere Familie … Zwei lebhafte Töchter sind da … Sie treiben es manchmal toll … Man würde sich alle Mühe gegeben haben, mich zu erheitern. Aber gerade das mochte ich nicht. Man soll sich nicht mit mir beschäftigen, man soll mich ruhig in meinem Winkel lassen. Ich bin nicht einsamer als früher. Meine Mutter ist bei mir.“

Diesmal schüttelte Detlev den Kopf. „Sie gefallen sich zu sehr in der düsteren Stimmung, die dieses Zimmer aushaucht. Wenn Sie mich schon von drüben vertreiben, so ziehen Sie selber hinüber! Da haben Sie doch keine schwefelgelbe Feuermauer vor sich. Die Zimmer sind hell. Sie sehen den Fluß mit seinen Eisschollen, die Straße, die den ganzen Tag voll Leben ist. Man sieht die Kinder aus der Schule kommen, Soldaten –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ach ja, die Soldaten! Vielleicht ist das gerade der Grund, warum Sie nicht drüben wohnen wollen. Aber Sie brauchen gar nicht auf die Erde zu blicken, sondern zum Himmel. Hier haben Sie keinen Himmel und keine Luft.“

„Glauben Sie mir, mir ist am wohlsten hier!“ entgegnete Marguerite, träumerisch ins Feuer starrend. „Ich brauche die gewohnte Umgebung, die vertrauten Gegenstände. Einen Wechsel könnte ich nicht ertragen!“

Detlev sagte nichts mehr. Für eine Weile gab er sich stumm dem beglückenden Gefühle ihrer Nähe hin. Es war vielleicht das letzte Mal im Leben, daß er ihr ohne Zeugen gegenüber saß und, vom Halbdunkel begünstigt, die Blicke an ihrem lieben Gesichte hängen lassen durfte. Ihm war wohl und weh zugleich, wenn er sie betrachtete. Sie war so schön in ihrer sanften Blässe. Jedes Männerherz hätte sie gerührt mit ihrer schmucklosen Lieblichkeit.

„Morgen zieh’ ich aus!“ sagte er dann plötzlich rauh.

Sie hob den Kopf. „Sie haben schon eine Wohnung? Ist sie auch nett und freundlich?“

„Was liegt daran – wenn Sie mich nur los sind.“

„Es scheint undankbar, Sie fortzuschicken!“ gestand Marguerite sanft. „Sie sind sehr gut zu mir gewesen. Was wollen Sie? Es geht nicht anders. Sie werden sich schnell wieder eingewöhnen drüben. Wie heißt Ihre Wirtin?“

„Keine Französin diesmal. Frau Klara Schmidt. Sie werden sie kaum kennen.“

„O, ich kenne sie. Eine von ihren Töchtern ging mit mir in die Schule. Die ist schon verheiratet. Aber es sind noch zwei jüngere Töchter da.“

Detlev hatte die beiden Mädchen gesehen und schnitt eine leichte Grimasse, die ein leises Lächeln auf das ernste Gesicht des jungen Mädchens lockte.

„Sie scheinen zu glauben, daß ich mich gewohnheitsmäßig in meine Wirtstöchter verliebe, Fräulein!“

„O!“ wehrte Marguerite ab.

„Bitte, lassen Sie mich reden … Ich möchte Ihnen doch wenigstens sagen, wie es mir ums Herz ist! Nachdem es mir kaum noch gestattet war, Ihnen einen Schritt näher zu treten, führt uns das Leben wieder auseinander. Auf Ihren Wunsch entferne ich mich aus Ihrem Gesichtskreis. Die Geschichte ist hoffnungslos, ich weiß es. Aber einmal will man sich doch aussprechen. Sie haben es wohl nie geahnt, daß ich Ihnen gut gewesen bin vom ersten Blick an?“ Es war eine halbe Frage, aber Marguerite saß regungslos. Bloß einen Seufzer glaubte Detlev zu vernehmen.

„Und ich habe Sie kennengelernt, als Sie noch unversagt, unverlobt waren! Aber wenn ich mich da auch gemeldet hätte, es wäre ja doch keine Hoffnung gewesen, keine –“

„Keine,“ murmelte Marguerite leise.

„Zu vieles stand zwischen uns. Ihre Mutter … Aber, vor allem würden Sie selbst wohl nie einen Deutschen haben lieben können … Oder wäre es denkbar gewesen, wenn Sie noch über Ihre Hand zu verfügen gehabt hätten? Hätte ich Sie erringen können, wenn der andere mir nicht zuvorkam?“

„Wozu die Frage? Ich bin Herrn Morels Braut!“

„Wozu die Frage?! Es wäre Balsam für mich, zu wissen, daß nicht in Ihrem Herzen das Hindernis lag. Aber, nein, Sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0215.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2020)