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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Geplauder, und dann saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber, als hätten ihre nachklingenden Gedanken an diesem Worte noch zu raten. Nach solch einer Stille sagte Ettingen einmal, ganz unvermittelt: „Denken Sie, Fräulein … die ganze Zeit schon, während ich plaudere mit Ihnen, bei jedem Wort, das Sie sprechen, geht mir immer eine seltsame Empfindung nach …“

„Welche?“

„Daß wir nicht allein wären … hier am Tisch! Daß noch ein Dritter bei uns wäre … Ihr Vater!“

Wie es ihre Wangen überglühte, wie es aufleuchtete in ihren Augen, das verriet ihm, mit welcher Sehnsucht sie darauf gewartet hatte, daß er von ihrem Vater sprechen würde.

„Wirklich, Fräulein … bei so vielem, was ich von Ihnen hörte, hab’ ich mir immer denken müssen: er ist es, der zu mir redet! Und oft überkam mich völlig die Täuschung, als vernähme ich eine ganz andere Stimme, nicht die Ihrige, seine Stimme. Ich stelle mir vor, daß er ein tiefes, klangvolles Organ hatte – eine von jenen Stimmen, nach denen man sich unwillkürlich umsieht, wenn man sie hört?“

„Nein!“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Papa hatte eine ganz unauffällige Stimme, nicht stark und beinahe herb, fast immer ein wenig erregt und etwas ungeduldig … wie das so ist, wenn die Zunge den Gedanken nicht nachkommt. Aber wie weich und zärtlich konnte diese Stimme klingen! Wie sie ins Herz ging, so warm …“ Träumend blickte Lo’ vor sich hin, als ob sie lauschen möchte. Ein Schatten tiefer Wehmut glitt über ihre Züge. Dann atmete sie auf und sagte leis: „Das kommt nicht wieder! Da hilft kein Erinnern.“

Um die schmerzliche Stimmung zu verscheuchen, die sie befallen hatte, begann er von seinem Besuch in ihrem Haus zu sprechen und schilderte ihr den Eindruck, den er von jedem einzelnen Bild empfangen hatte. Lange hörte sie ihm schweigend zu, keinen Blick von seinen Lippen verwendend. Dann sprach sie manchmal ein paar flüsternde Worte dazwischen, um seine nicht völlig zutreffende Auffassung des einen und anderen Bildes richtigzustellen, oder um ihm zu sagen, aus welchem zufälligen und scheinbar unbedeutenden Erlebnis gerade dieses oder jenes besonders wirksame Motiv hervorgewachsen war. So kam sie allmählich ins Erzählen und schilderte ihm das ganze seltsame Schicksal ihres Vaters, die Anfänge seiner Kunst, das stille Glück seiner Liebe, als er in der Erzieherin eines vornehmen Hauses, in dem er Zeichenstunde gab, seine Frau gefunden, – seinen häuslichen Sorgenkampf, seine Verzweiflung über das lachende Unverständnis, dem er mit seinem eigenartigen Schaffen und Sinnen begegnete, seine Verbitterung und die Flucht aus der Stadt, sein resigniertes Aufatmen im stillen Dorf und im Verkehr mit der Natur, die schönen Traumwochen am Sebensee, die Liebe zu den Seinen und die Freude an seinem Haus, den Anfang dieser handwerksmäßigen Schilderei, die er im Zorn der Verbitterung begann, um sie mit heiterer Ironie dann weiter zu treiben, fast mit einer Art von Freude an ihr, weil sie anderen Freude machte – die Rückkehr zu neuem, reiferem Schaffen, die Aengstlichkeit, mit der er die neu entstandenen Werke in seinem Haus verschloß, damit sie nur ja keinem „Kunstaugur“ vor Augen kämen, sein ganzes Leben bis zu jenem letzten Tag nach dem Wolkenbruch, bis zu seinem lächelnden Sterben und seinem letzten Wort: „Meine Blumen …“

Stunde um Stunde verging dabei – und sie merkten nicht, daß über dem kleinen Dach das Rauschen des Regens immer leiser wurde und daß durch die Ritzen der Fensterläden sich schon ein mattes Grau des erwachenden Morgens schlich.

„So starb er.“

Lange saßen sie sich schweigend gegenüber, bis Ettingen die Hand des Mädchens nahm und sagte: „Ich kann es Ihnen nachfühlen … wie müssen Sie ihn schwer verloren haben!“

„Ja!“ Sie sagte sonst kein anderes Wort. Doch ihre Augen verschleierten sich feucht. Und erst nach einer Weile konnte sie wieder sprechen: „Aber das Lächeln, mit dem er starb, der leichte Seufzer, mit dem er die Augen schloß … das war mein Trost, und das hat mir hinübergeholfen über das Schlimmste, so daß ich die Mutter und den Bruder stützen konnte in ihrem Schmerz. Und er hat mich ja doch gelehrt, das Leben lieb zu haben, aber auch den Tod nicht zu fürchten, nichts anderes in ihm zu sehen als einen Wandel der Form und eine schöne Ruhe, in die kein Schrei und Weh des Lebens mehr hineinklingt! Und weil er starb … deshalb hat er uns nicht verlassen! Immer seh’ ich ihn, immer ist er bei mir … und wenn schon Sie das empfinden mußten, der Sie ihn gar nicht kannten … wie muß ich das fühlen, ich, sein Kind! Als ob er noch lebte, wirklich und wahr, so seh’ ich ihn vor mir stehen … nur so still!“ Ihre Stimme schwankte. „So schweigsam! Und wie ich auch all mein Erinnern sammle … seine Stimme hör’ ich nicht mehr, auch nicht im Traum … und wenn ich sie zu hören meine, dann klingt sie anders … nicht mehr so, wie sie war. Und das ist eine Sehnsucht, die mich nie verläßt: seine Stimme noch einmal zu hören … nur jenes einzige Wort, das er immer zu mir sagte, wenn ich ihm eine Freude machte … mit der gleichen Zärtlichkeit, mit dem gleichen Ton: ‚Meine gute, liebe, kleine Lo’!‘ Das möcht’ ich noch einmal hören, nur ein einziges Mal! … Aber ich weiß, das kommt nicht wieder!“ Zwei schimmernde Thränen lösten sich von ihren dunklen Wimpern und sickerten langsam über die Wangen nieder.

„Fräulein …“ Das war ein Laut, so erregt und ungestüm, wie aus quälendem Schmerz heraus.

Und da erwachte der Jäger. Ein wenig mühsam erhob er sich, denn alle Glieder schienen ihn zu schmerzen, und öffnete die Thür. Weiße Helle und frische Morgenluft quoll in den Lampenschein der Stube. „Da schauen S’ her, Herr Fürst! Tag is worden! Und der schönste Morgen!“ Lachend rieb er sich die Augen und trat über die Schwelle hinaus.

Die beiden am Tisch erhoben sich. „Tag? Wirklich, es ist Tag geworden!“ Ettingen faßte die beiden Hände des Mädchens. „Und wenn ich jetzt gehe … ich danke Ihnen, Fräulein, für diese Nacht ... und ich nehme um Ihretwillen einen Wunsch mit fort …“

„Einen Wunsch?“

„Daß Sie das noch einmal hören möchten in Ihrem Leben … mit der gleichen Zärtlichkeit und mit dem gleichen Ton: Meine gute, liebe, kleine Lo’!“

Zögernd ließ er ihre Hände, ging zum Diwan hinüber und küßte den schlummernden Knaben auf die Stirn. Gustl erwachte, richtete sich in den Kissen auf, blinzelte mit den Augen und sagte: „Guten Morgen!“ Das wirkte so drollig, daß sie lachen mußten, alle beide. Zärtlich klopfte Lo’ den Knaben auf die Wange. „Guten Morgen, Bubi! Aber leg’ dich nur wieder hin und schlaf’ noch ein Weilchen. Es ist ja noch gar nicht Tag … erst vier Uhr früh!“

„So? Aber gelt, wenn die Sonne kommt, dann weckst mich, Lo’?“

„Ja, Bubi!“

Gustl gähnte mit singendem Ton und drehte sich auf die Seite. Nach einer Minute schlief er schon wieder.

Lo’ und Ettingen traten vor die Hütte.

Im weißen Frühlicht lebten schon alle Farben der Landschaft auf, und all diese Farben hatten etwas Neues, Ungewöhnliches und Kraftvolles. Doch nur in der Ferne erschienen sie klar. Ueber allen Farben der Nähe lag’s wie ein Hauch des Reifes, wie ein grauer Seidenschleier, und unter der Schwere zahlloser Wassertropfen waren alle Kelche der Blumen gebeugt, all ihre Blätter und Zweige zu Boden gedrückt. Doch während Tropfen um Tropfen von ihnen niederrollte, begannen sie schon langsam sich wieder aufzurichten, frischer und schöner, wie von neuem Leben erfüllt. Von den Büschen des Gartenzaunes, und reichlicher noch von den schweren Nadelzweigen des Harfenbaumes, ging ein unaufhörliches Geriesel nieder, und das war in der Stille des Morgens wie eine leise, heitere Murmelstimme, in die sich mit tiefem Orgelton das ferne Rauschen der wasserreichen Wildbäche mischte.

Ruhig dampfte der See, doch die Dünste, die von ihm aufstiegen, zerflossen wieder in den Lüften. Vereinzelte Nebelsäulen rauchten über die schwarzgrünen Kämme der Wälder empor und zogen sich langsam an den Gehängen der Berge hin. An den Wänden, die gegen Westen blickten, waren in nassem Blau alle Formen verwaschen, in hartem Bleigrau aber und scharf gezeichnet starrten alle Felsen, die gegen Osten sahen, von wo die Sonne kommen sollte. Sie kam noch nicht. In kalter Helle leuchtete das dünne Blau des Himmels, und mit erlöschendem Schimmer zitterte ein großer Stern noch zwischen dem letzten grauen Gewölk, welches langsam davonzog über den Grat der südlichen Berge. Aber hoch am

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0204.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2019)