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bettelstolzes Herz. Aber,“ setzte der Treue boshaft hinzu, „Du willst bei mir nicht bleiben, weil Du glaubst, Dich zu langweilen etc. Na, vorerst komm nur, mein prächtiges Lockenköpfchen … Hurrah, fröhliches Wiedersehen!“ (Arnstadt, 26. Febr. 1863.)

Nun fielen alle Bedenken weg, Jenny kam nach Arnstadt, um es nie mehr wieder zu verlassen.

Der Entschluß, in der Vaterstadt zu bleiben, war für unsere Dichterin weit bedeutungsvoller, als sie selbst ahnen mochte. Seitdem sie fortgezogen war, hatten sich die Verhältnisse gründlich geändert. Zunächst in der eigenen Familie. Zwar war 1853 die Mutter gestorben und die ältere Schwester Rosalie, ein schönes und auch künstlerisch veranlagtes Mädchen, war so krank geworden, daß man sie niemals ohne Aufsicht lassen konnte; sie lebte noch bis 1866, und Eugenie nahm treulich einen Teil der schweren Pflicht auf sich. Aber alle drei Brüder waren doch zu tüchtigen Männern herangewachsen; Hermann als Künstler in der Porzellanfabrik, Max als Techniker; Alfred war seit mehreren Jahren schon Oberlehrer an der Realschule in Arnstadt und seit 1860 glücklich verheiratet mit der begabten Tochter Ida seines Schuldirektors. Vater John tummelte sich noch rüstig und nun erst allgemach freudig aufatmend, da sich die Last seiner Sorgen endlich doch verringert hatte. Er lebte noch bis 1873 und konnte sich als Greis im Ruhme seiner Tochter sonnen.

Aber auch die Stadt Arnstadt hatte Fortschritte gemacht. In jener Zeit – den ersten sechziger Jahren – ging ein mächtiges Streben durch die ganze Welt und insbesondere durch Deutschland, sowohl auf wirtschaftlichem als mich auf politischem Gebiete. Das Eisenbahnnetz wurde ausgebaut, der Verkehr in ungeahnter Weise gehoben. Fabriken aller Art entstanden allerorten. Bisher abseits gelegene Nester gerieten ins europäische Getriebe und rieben sich, wie aus einem Jahrhunderte langen Schlaf erwachend, die Augen. Und andrerseits geriet die deutsche Einheitsbewegung, die seit den Befreiungskriegen und vollends seit dem Achtundvierziger Jahre das deutsche Gemüt mit ungestillter Sehnsucht erfüllte, endlich in Fluß, als der Streit um die Herzogtümer Schleswig-Holstein ausgefochten wurde.

An dieser großen Bewegung ihrer Nation nahm unsere Dichterin lebhaftesten Anteil. Solange sie selbständig denken konnte, hatte sie sich für die politischen Vorgänge interessiert, die ja auch öfter in ihr eigenes Schicksal eingegriffen hatten; so damals als sie Engagement bei der Oper suchte und während der Revolutionszeit keines finden konnte. Am Hofe der Fürstin Mathilde mußte doch auch viel politisiert werden, da das Gedeihen ihres Hauses mit den politischen Ereignissen innig verknüpft war. Im täglichen Umgang mit dem eifrig national gesinnten Bruder Alfred und bei fleißiger Lektüre der Tageslitteratur konnte sich Eugenie fortdauernd in Kenntnis der öffentlichen Zustände erhalten.

Sie war eine „Gothaerin“, bekannte sich zu den Grundsätzen des Nationalvereins. Im dänischen Kriege standen ihre Sympathien auf preußischer Seite, und zwar so lebhaft, daß sie in den zwei Jahren 1864–1865 nach Wien keine Zeile schrieb. Im deutschen Bruderkrieg des Jahres 1866 verfolgte sie jedoch die preußischen Siege nur mit geteilter Freude. Ihr Herz bewahrte noch die schönen Erinnerungen an Oesterreich und blutete bei der welthistorischen Auseinandersetzung der deutschen Großmächte auf dem Schlachtfelde. Da hielt sie es auch nicht länger mit dem Schweigen aus, und nach dem Prager Frieden schrieb sie nach Wien (16. Sept. 1866):

„Euch Allen mag jetzt wol sein, als sei ein schwerer Traum voll blutiger Bilder abgeschüttelt. Wollte Gott, er hätte kein anderes Gefolge, als den Rückblick auf die Menschenopfer, die der, wenn auch kurze, doch furchtbare Krieg gefordert hat – aber über dem Hause Habsburg ist’s dunkel, und das, was zu kommen droht, ist wol nicht weniger trostlos, als das jüngst Geschehene. Der große Staatsmann an der Spree, plötzlich an die User der Donau versetzt, würde freilich das alte Reich aus den Angeln heben – er wäre kühn genug, der ,todten Hand’ zur Ader zu lassen und mittels dieser gewaltigen Silberströme einen frischeren Herzschlag in den kranken Staatskörper zu bringen.“ … Eine Verehrerin Bismarcks ist E. Marlitt immer geblieben.

Ihre Niederlassung in der Vaterstadt hatte aber insbesondere für die Entwicklung ihres dichterischen Geistes die bedeutsamsten Folgen. Von Antäus erzählt die Mythe, daß er bei jeder Berührung mit dem Boden der Mutter Erde an Kräften wuchs. Die eigentlich Marlittsche Poesie gedieh erst, als die Dichterin die Stätten ihrer Jugend wiedergefunden hatte.

Nach dieser Richtung lehrreich ist ein Vergleich ihrer ersten zwei thüringischen Erzählungen „Schulmeisters Marie“ und „Die zwölf Apostel“, von denen die erste zu ihren Lebzeiten keinen Drucker finden konnte, indes die zweite sofort den Beifall Ernst Keils gewann, der sie im Jahrgang 1865 der „Gartenlaube“ erscheinen ließ und die ihn noch überdies veranlaßte, den Einsender – denn er hielt „E. Marlitt“ für einen Mann – zu weiterer Einsendung von Erzählungen zu ermuntern. Woran lag nun dieser Unterschied im Urteil? „Schulmeisters Marie“ ist eine ganz respektable Talentprobe. Die Heimkehr der unschuldig verdächtigten Schulmeisterin just mitten in den Jubel der Hochzeit im Wirtshaus ist schon eine jener dramatischen Scenen, auf welchen später ein gut Teil der großen Wirkung der Marlittschen Romane beruhen sollte. Aber unsere Dichterin bedient sich hier einer Räuberromantik, die doch schon auch damals, vor mehr als dreißig Jahren – zur Zeit Gustav Freytags, Otto Ludwigs, Gottfried Kellers – veraltet war.

An Stelle dieser Romantik tritt nun in den „Zwölf Aposteln“ eine andere Poesie, für die Marlitt kein litterarisches Vorbild brauchte, weil sie sie aus ihrem eigenen Leben schöpfen konnte.

Da wird das Arnstädter ruinenhafte Nonnenkloster mit der Liebfrauenkirche, in deren Welt sich schon die Phantasie der jungen Eugenie eingenistet hatte, zum poetisch verklärten Schauplatz der Erzählung: der alte Turm mit dem weit und breit berühmten Glockengeläute, der dunkle, kaum je beschrittene Gang, der schließlich in den Garten führt, und daneben gleich der Wäschetrockenplatz der „Seejungfer“, deren Horizont nicht Weiler als über ihren Zaun hinausreicht. In solchen Kontrasten wurde die Poesie E. Marlitts lebendig. Dazu noch die Gestalt des Welt- und menschenscheuen Lenchens, des ersten mädchenhaften Trotzkopfes in der Marlittschen Dichtung, dem eine ganze lange Reihe von gleichen und verwandtern Charakteren folgen sollte.

Damit erst war die Eigenart der Marlittschen Muse zum ersten Male durchgebrochen, und sofort fand sie eine mehr als freundliche Begrüßung.

Man muß auch die beiden Charaktere der Schulmeister-Marie und des Lenchens näher betrachten, um den innersten Kern der Wandlung der Dichterin zu erfassen. Marie ist nichts weniger als trotzig. Als sie erfährt, daß die Mutter ihres Geliebten die Zustimmung zur Verbindung nicht geben will, ist sie sofort bereit mit Berufung auf das Gebot: Ehre Vater und Mutter, zurückzutreten. Das ist nicht unweiblich, aber es ist noch nicht marlittisch. Schon hier läßt die Erzählerin den Geliebten zornig sagen: „Wenn sich die Verhältnisse dieser Liebe nicht gleich anpassen wollen, so streift man sie ab, wie einen Rock, den der Schneider nicht recht gemacht hat … vielleicht hast du auch über Nacht dein Gelöbnis bereut – schwach sind die Weiber alle!“ Diese Schwäche Mariens hat in den späteren Erzählungen der Marlitt keine ihrer Heldinnen. Im Gegenteil! Sie nehmen den Kampf mit den Verhältnissen für ihr gutes Recht, für ihre Ehre, für die Anerkennung ihrer Persönlichkeit mutig auf. Typisch ist, was Agnes, „Amtmanns Magd“, und zwar wie es ausdrücklich heißt „nicht ohne einen gewissen Trotz“ sagt: „Es soll dem tückischen Schicksal schwer werden, mich niederzuwerfen. Noch weiß ich nicht, was Seelenmüdigkeit ist, und dazu fühle ich die Kraft der Jugend in meinen Händen. Und ansehen soll mir’s gewiß keiner, wenn das bischen Selbstgefühl einmal nicht so parieren will, wie es soll und muß!“ So denken alle Marlittschen Heldinnen.

Dadurch also, daß sich Eugenie in der Stadt ihrer Jugend niederließ und unwillkürlich dem Zuge ihres Herzens folgend, sich ins Wunderland ihrer Jugenderinnerungen versenkte, gewann sie nicht bloß einen poetischen Schauplatz für ihre Geschichten – sie hat nach und nach unter mehr oder weniger leichten Verhüllungen ganz Arnstadt geschildert – sondern es gestaltete sich auch ihr Mädchenideal bei dieser Versenkung ins Paradies der Vergangenheit aus, und sie bildete es nach dem Geschöpf, das sie einmal

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0187.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)