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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

nachdem sie erfahren hatte, um was es sich handelte, unbekümmert um ihr fast groteskes Negligé hinauf hastete, holte Detlev sich in seinem Zimmer Mütze und Mantel und eilte dann hinaus in die Winternacht, der Römerstraße zu. Mit einiger Mühe fand er in dieser die Klingel des Doktors, aber es dauerte geraume Zeit, bis ihm geöffnet wurde, und noch länger, bis der Doktor, ein kleiner weißhaariger Franzose mit einer vierschrötigen Figur, aber einem sehr feinen Kopfe, bereit war, ihm zu folgen. Detlev wartete, um den alten Herrn zu begleiten.

Auf dem Wege sprach sich Doktor Laurins über Madame Dormans’ Leiden aus und bestätigte Detlevs Vermutungen, daß es um die alte Dame schlimm stehe. Eine Verurteilte! Wie viel Gnadenfrist ihr gegönnt sei, könne man allerdings nicht wissen. Allein ihre Konstitution, durch viele Leiden erschöpft, würde nicht mehr viel aushalten. „Sie weiß auch recht gut, wie es um sie steht. Nur die Kleine schmeichelt sich noch mit Hoffnungen. Ein sehr gutes Mädchen! Beaucoup de ‚Gemüt‘, Monsieur!“ schloß der kleine Franzose, mit einem gewissen Stolz das deutsche Wort hervorhebend.

Als Detlev, in der Belle-Islestraße angelangt, dem Doktor mit einem Wachskerzchen die Treppe hinaufleuchtete, kam ihnen Madame Joß entgegen.

„O, Monsieur!“ fiel sie den Doktor an, und ein langer Bericht ergoß sich von ihren Lippen. Madame Dormans befand sich sehr schlecht. Man hatte ihr alles gegeben, was zur Hand war, nichts hatte geholfen.

Inmitten dieser wortreichen Klagen verschwand der Doktor hinter der Glasthüre, während Detlev auf dem Flur blieb. Wohl eine Stunde ging er dort in der Kälte auf und ab oder lehnte an dem Thürpfosten und horchte nach den Schmerzenstönen, die von innen kamen. In dem kleinen Empfangszimmer saßen die Perrauls in Nachtjacke und Schlafhaube und beteten für Madame Dormans. Uebrigens war das ganze Haus wach; auch Stefan war heruntergekommen und lief mit dem Rezept, das der Doktor geschrieben hatte, in die Apotheke. Als er zurückkam, dämmerte es bereits. Das Schreien der Kranken und das Hin- und Herlaufen der Frauen hörte auf. Madame Dormans befand sich etwas besser, und die Arznei, die man ihr jetzt eingab, schien die Schmerzen noch mehr zu besänftigen. Die Damen Perraul begaben sich wieder in ihre Wohnung, und Detlev, der das Gleiche nicht thun wollte, ohne vollkommen beruhigt zu sein, trat in das Empfangszimmerchen, das eine Kerze spärlich und mit flackerndem Licht erhellte. Marguérite kam für einen Augenblick heraus. Totenblaß, aber mit einem dankbaren Lächeln, ging sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Wie danke ich Ihnen!“ stammelte sie bewegt.

Detlev hielt ihre Hand einen Augenblick fest. „Es geht besser?“

„Ja, besser! Vielleicht wird sie endlich schlafen. Sie ist nun ganz ruhig geworden, und Doktor Laurins sagt, der Anfall sei vorüber. Geh’n Sie doch auch zur Ruhe!“

„Und Sie?“

„Ich werde schlafen, wenn Mama schläft.“

Detlev drückte noch einmal leise die Hand des jungen Mädchens und ging dann hinüber in seine Wohnung. Einige Augenblicke später hörte er den Doktor fortgehen … Auch Jeannette wurde zur Ruhe geschickt, und zuletzt entfernte sich Madame Joß. Es wurde totenstill, und in dieser Stille drückte der Schlaf bleiern auf Detlevs Lider. Es war aber fast schon heller Morgen, als er völlig einschlief.

Am nächsten Tag, oder vielmehr an demselben, nur einige Stunden später, hielt Detlev es für angezeigt, sich persönlich nach dem Befinden seiner Wirtin zu erkundigen. Zum erstenmal betrat er bei Tageslicht ihre Wohnung. Erstaunt sah er sich in dem kleinen Zimmer um, das ihm in der Nacht und beim unruhigen Licht einer einzigen Kerze natürlich einen anderen Eindruck gemacht hatte. Das Zimmerchen bestand beinahe nur aus Thüren und Fenstern. Einige wenige Sitzmöbel aus verblaßtem roten Rips füllten die Zwischenräume aus. Mit einem solchen Raum als „Salon“ war es begreiflich, daß die beiden Frauen sich so viel wie möglich vom Verkehr abschlossen. Das Zimmerchen machte übrigens trotz alledem keinen unfreundlichen Eindruck. Es war sehr sauber aufgeräumt und jede Spur der nächtlichen Verwirrung daraus verwischt. Marguérite jedoch, die sogleich erschien, als sie die Thüre gehen hörte, hatte nicht so leicht die Spuren der verflossenen Nacht von ihrem Gesichte tilgen können: sie sah bleich und übernächtig aus, und blaue Ringe umzogen die Augen. Doch beeinträchtigten diese Zeichen von überstandener Angst und Aufregung ihre Schönheit nicht, sondern verliehen derselben etwas Rührendes. Wenn Detlev sich später Rechenschaft darüber ablegte, wann sein Zustand unheilbar geworden war, so mußte er sich gestehen, daß dieser Morgen und die kurze und im Grund so belanglose Unterredung entscheidend gewesen waren. Mit Marguérite war eine Veränderung vorgegangen. Das Fremde und Gemessene war aus ihrem Benehmen verschwunden, sie sprach zu ihm mit einer einfachen sanften Freundlichkeit, die ihn unendlich wohlthuend berührte. Sie teilte Detlev mit, daß ihre Mutter sich verhältnismäßig sehr wohl fühle, bloß ein wenig schwach. „Ich hoffe, das Aergste ist wieder einmal überstanden, und Doktor Laurins meint gleichfalls, der Anfall werde sich nicht so bald wiederholen.“

Detlev erinnerte sich dessen, was ihm der alte Arzt gesagt hatte, und wie wenig auf Madame Dormans’ Besserung zu bauen sei.

„Sie lieben Ihre Mutter sehr?“ fragte er leise.

„Ueber alles!“ entgegnete sie einfach. –

Nach diesem Anfall schien Madame Dormans Befinden sich wirklich zu bessern, und als Detlev sich das nächste Mal persönlich nach der Kranken erkundigte, wurde er sogar in die Wohnstube der beiden Damen geführt. Madame Dormans war aufgestanden, und so durfte er den Raum betreten, in dem fast das ganze Leben Marguérites sich abspielte. Der herabgelassene Vorhang verhüllte den Alkoven und somit auch das Bett; einer der Fauteuils war zum Fenster gerückt worden, und in diesem saß die Leidende, dem bleichen Tageslicht ausgesetzt. Detlev erschrak fast über ihren Anblick. Ihr dunkles Hauskleid und das schwarze Haar ließen die Haut noch welker als sonst erscheinen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangen waren hohl, die Schläfen eingesunken.

Sie dankte dem jungen Offizier höflich dafür, daß er in der Nacht sich selbst zum Arzt bemüht habe, und fragte ihn dann, ob er keinen Weihnachtsurlaub antreten werde.

„Allerdings. Ich verreise in nächster Woche auf vierzehn Tage.“

„Und wo reisen Sie hin?“

„An den Niederrhein zu meinem Onkel, der dort ein Gut besitzt. Meine Mutter und meine Schwester kommen auch hin.“

„Wir erwarten gleichfalls liebe Gäste. Der Bräutigam meiner Tochter und seine Eltern wollen uns besuchen.“

„Da werden Sie ja fröhliche Feiertage verleben,“ versetzte Detlev. Aber fast schien es ihm zweifelhaft, daß sie sie erleben werde.

Marguérite schien seine Befürchtungen nicht zu teilen. Sie plauderte mehr und heiterer als sonst, doch vermutete Detlev, daß sie sich der Mutter wegen Zwang auferlege.

Ehe sich jedoch ein rechtes Gespräch entwickeln konnte, kamen die Schwestern Perraul angerückt, und Detlev räumte das Feld. In den folgenden Tagen ließ er sich nur durch Stefan nach dem Befinden seiner Wirtin erkundigen; auch beabsichtigte er, sich bei seiner Abreise von den Damen nicht persönlich zu empfehlen. Er wollte nicht wieder von Didier Morel hören. Ueberhaupt war es besser für ihn, Marguérite nicht zu häufig zu sehen.

Und doch sollte er ihr noch einmal vor seiner Urlaubsfahrt begegnen.

Am Tage vor seiner Abreise hatte er einige Einkäufe besorgt und schlenderte langsam die Esplanade hinunter, dem Flusse zu. Die entlaubten Alleen waren menschenleer, aber diese Einsamkeit verlieh ihnen einen Zug von verlassener Größe, und ihre stille Traurigkeit stimmte mit Detlevs eigenem Seelenzustand überein. Plötzlich stutzte er. An der Mauerrampe am Ende der Esplanade, von wo Treppen zum Bett des Moselarmes hinunterführten, lehnte eine weibliche Gestalt. Die Arme auf die Rampe gestützt und den Schleier zurückgeschlagen, stand sie da und sah hinüber, in die engen alten Gassen hinein, die sich jenseit des Flusses öffneten, und in das weite Moielthal hinaus.

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