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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

der Ihrigen – dann werde ich Sie – gewiß – ich hoffe – lieben lernen, wie Sie es verlangen! Haben Sie Geduld mit mir …“

„Daran soll es nicht fehlen!“ rief Didier, die Hand des jungen Mädchens drückend. „So sind wir einig, nicht wahr? Aber wollen wir jetzt nicht lieber umkehren? Es weht hier ein verteufelt kalter Wind, und gerade jetzt verspüre ich keine Sehnsucht nach einem Schnupfen!“

„Sie haben recht, kehren wir um,“ antwortete Marguérite mit tonloser Stimme.

Am folgenden Vormittag begegnete Detlev der kleinen Jeannette im Flur. Sie blitzte ihn aus ihren dunklen Augen schelmisch und verständnisvoll an. „Heute werden Sie nicht ausreiten, Herr Leutnant!“

Es regnete nämlich. „Und Sie nicht mit Mademoiselle und Monsieur spazieren gehen,“ gab er zur Antwort.

„Das könnte ich auch nicht, wenn es nicht regnen würde. Monsieur Didier ist bereits heute morgen abgereist.“

„So, so … Abgereist ist er … So bald?“

„O, nicht für lange … Er kommt in einigen Tagen wieder ...“ Es glimmte mitteilungsbedürftig in ihren Augen. Die funkelnden hellen Glanzpunkte auf den dunklen Augäpfeln kicherten: Ich weiß was, ich weiß was … Aber Detlev fragte ihnen das Geheimnis, das sie so gern preisgegeben hätten, nicht ab. Es eilte ihm nicht, es zu erfahren.

*      *      *

Nun zog der November ein. Am Allerheiligentage schüttete es vom Himmel, und obgleich der Regen in der Nacht nachließ, so war doch auch der Allerseelentag feuchtneblig, naßkalt und trostlos. Dennoch hatte sich Detlev entschlossen, den Friedhof zu besuchen … Auch Marguérite und die Schwestern Perraul hatte er bereits eine Weile vorher einen mit Kränzen bedeckten Wagen besteigen gesehen, der die Richtung nach dem Ostfriedhof eingeschlagen hatte … Beklommen von der Nebelluft und bis in die Seele hinein angefröstelt von dem Anblick der verregneten Welt, fuhr Detlev hinterdrein. Es giebt einen kräftig und frisch herunter strömenden Regen, der den Lebensmut weckt und hebt – diese langsamen unaufhörlich sich senkenden Regenschnüre hingegen drückten auf Detlevs Lebensgeister wie sonst nicht bald ein Wetter. Die regennasse Friedhofsatmosphäre konnte diesen Eindruck nur verstärken. Die schwarzen Kleider und Schleier, der schwere Duft der verregneten Blumen, die ihre Kelchblätter vorzeitig verloren, die trübbrennenden Lichter, deren Gelb vergebens gegen all das Grau um sie herum ankämpfte, alles trug dazu bei, die traurige Stimmung, die dem Ort und der Gelegenheit so angemessen war, vollkommen zu machen.

Detlev betrachtete zuerst die langen Reihen der Soldatengräber. Hier lagen Tausende von Franzosen, die der Kampf um die Stadt hinweggerafft hatte, und wenn irgendwo, so konnte man es hier verstehen, daß zwanzig Jahre nicht genügt hatten, um Vergessenheit und Versöhnung zu bringen. Langsam wanderte er dann zwischen den Ruhestätten der toten Bürger von Metz dahin. Reichen Naturblumenschmuck trugen nur wenige Gräber; die meisten waren mit Papierblumen, die der Regen schnell verwusch, mit Immortellen oder mit Kränzen und Kreuzen aus schwarzen und weißen Perlen geschmückt. Deutsche Grabschriften wechselten mit französischen, allein die letzteren überwogen.

Endlich gewahrte er unter den Trauernden die schlanke Gestalt, die sein Auge unwillkürlich längst gesucht hatte. Marguérite stand an der Friedhofsmauer vor einem Familiengrab. Einige Schritte weit von ihr befanden sich Célestine und Octavie Perraul.

Lange, lange dauerte die Andacht der Beterinnen. Als sie sich zuletzt aber doch zusammenfanden, um einen Rundgang bei den Gräbern ihrer toten Bekannten anzutreten, näherte sich Detlev dem Grabe, an dem Marguérite gebetet hatte, und las die auf einer Marmortafel eingegrabenen Namen. Der letzte in der Reihe lautete „Alphonse Claude Antoine Marie Dormans-La Villette“, als Todestag war darunter der 11. August 1870 angegeben.

Das war also Marguérites Vater. Das Todesdatum aus der Kriegszeit bewies es. Neben ihm schien der leere Platz noch eines Namens zu warten. Wie erschütternd mußte nicht bei der schwankenden Gesundheit ihrer Mutter gerade diese leere Stelle auf Marguérite wirken! Er hatte mit tiefem Mitgefühl beobachtet, wie schmerzlich sie vorhin in sich hinein geweint hatte.

Beim Verlassen des Gottesackers kam er an seinen Hausgenossinnen vorüber. Als er sie grüßte, strich Marguérites Blick ganz fremd über ihn hin; Mademoiselle Octavie hingegen sah ihn erstaunt an; da erst fiel ihm ein, daß Marguérite ihn wohl gar nicht erkannt hatte, weil er in Civil war.

Ehe er in seinen Wagen stieg, warf er Abschied nehmend einen langen Blick auf das junge Mädchen zurück. Neulich, bei der Entdeckung, daß sie deutsche Autoren las, war es ihm gewesen, als sinke eine Scheidewand zwischen ihnen ein. Sie konnte das Volk nicht hassen, bei dessen Schriftstellern sie Anregung und innere Bereicherung suchte, deren geistige Gastfreundschaft sie genoß. In dieser Stunde jedoch sah er die Trennungsmauer höher als je zwischen ihnen beiden aufgerichtet.

In der nächsten Woche kam Didier Morel mit seinen Eltern zu Besuch. Am Abend nach ihrer Ankunft vernahm Detlev aus dem Salon der Perrauls, der an seine Schlafstube stieß, laute Stimmen und Gläserklirren, was ihn bei den stillen alten Damen ziemlich überraschte. Er nahm an, daß die Perrauls Madame Dormans und ihre Gäste bei sich hatten, aber er konnte doch nicht voraussetzen, daß wegen der Kleinheit der Dormans’schen Wohnung die Verlobung Didiers mit Marguerite bei den Perrauls gefeiert wurde. Indessen überraschte es ihn nicht sonderlich, am anderen Morgen zuerst von Stefan, dann von Madame Joß das Vorgefallene zu vernehmen.

Es schien Detlev sehr wahrscheinlich, daß ihm nun die Wohnung gekündigt werden würde. Der gehässige Blick, den ihm Didier bei einer zufälligen Begegnung zuwarf, ließ den Offizier vermuten, daß der junge Mann das Seinige dazu thun würde, ihn aus dem Hause hinaus zu bekommen. In der That hatte Didier Morel nicht ermangelt, bei Madame Dormans darauf hinzuweisen, daß sie es nicht mehr nötig habe, einem der Feinde Logis zu geben. Er war jedoch nicht durchgedrungen, denn Madame Dormans legte Gewicht darauf, vor der Hochzeit ihre materielle Unabhängigkeit von den Morels zu wahren. Ihr Wunsch ging dahin, ihrer Tochter eine Ausstattung mitzugeben. Sie kannte ihre Freundin Lolotte zur Genüge, um Marguérite nicht als aussteuerlose Braut in das Haus ihrer Schwiegereltern einziehen zu lassen. Um aber aus ihren eigenen Mitteln allen Ausgaben gerecht zu werden, brauchte sie mehr Geld, als sie auf das ohnehin schon belastete Haus auftreiben konnte, und die Miete des Offiziers war ihr nicht entbehrlich. Da sie nun einmal in den sauren Apfel gebissen hatte, mochte der Deutsche noch einige Monate bleiben. Nach Marguérites Verheiratung wollte sie die Wohnung im ganzen vermieten, und dann konnte er sehen, wo er bliebe. Jetzt, wo Marguérite verlobt war, schien ihr seine Anwesenheit im Hause überdies unbedenklicher als früher.

Madame Morel gab der Freundin sogar recht. Deutsches Geld war immerhin Geld. Warum die Wohnung leerstehen lassen? Madame Morel hatte eine starke geschäftliche Ader, und die materiellen Interessen waren ihr stets wichtiger als die nationalen. Da seine Mutter ihn nicht unterstützte, ließ Didier die Angelegenheit fallen, und so kam es, daß die von Detlev erwartete Kündignng ausblieb.

Die Morels reisten wieder ab, und es war alles wie vorher, nur daß Detlev von nun an jedes Zusammentreffen mit seiner jungen Nachbarin eher vermied als suchte.

Doch pflegte Madame Dormans jetzt mit ihrer Tochter auszugehen, und so geschah es, daß Detlev beiden zuweilen hier oder dort begegnete. Bei einem Zusammentreffen im Vorraum ließ sich Madame Dormans den Offizier von ihrer Tochter vorstellen, und an einem lauwarmen Dezembertag, wo Mutter und Tochter auf einer Bank in der entlaubten Mittelallee der Esplanade saßen und Detlev mit stummem Gruß an ihnen vorbeigehen wollte, hielt ihn Madame Dormans, die besonders guter Laune sein mochte, sogar auf, so daß er stehen bleiben und auf ein Gespräch eingehen mußte. Dies befremdete ihn von der sonst so zurückhaltenden und hochmütig kalten Frau.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0178.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2020)