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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Hildesheim.

     Erker am Kaiserhaus.

Weit in den deutschen Landen ist Hildesheim bekannt. Der „tausendjährige“ Rosenstock, der an seinem Dom emporrankt, hat einen Weltruf, und die Sage, die sich an ihn knüpft, lernt die Jugend in der Schule. Die Scharen der Touristen, die den Harz durchwandern, zieht es nach Hildesheim. Hat man doch die Stadt „das norddeutsche Nürnberg“ genannt und preist die Denkmäler alter Kunst, die hier in reichster Fülle zu schauen sind.

Wo der Harz seine letzten Ausläufer gegen den Norden aussendet und die Innerste, durch keinen Gebirgszug mehr gehemmt, durch ebener gewordenes Land langsam dahinfließt, erstreckt sich eine fruchtbare und freundliche Landschaft. Mit dunklen Wäldern reich geschmückte Höhenzüge bilden ihren Rahmen, prangende Felder wechseln mit grünen Wiesen ab, und Dorf reiht sich an Dorf. Inmitten dieses friedlichen Geländes ragen die stolzen Türme von Hildesheim empor.

Der „tausendjährige“ Rosenstock am Dom.

Wir stehen hier an einer uralten Stätte menschlichen Schaffens und Wirkens; denn an diesem Punkte, in dem alle Wege sich schneiden, die von den Bergen herabführen, befand sich, wie vorgeschichtliche Funde beweisen, schon lange vor christlicher Zeit eine Ansiedelung. Berühmt sind die Ausgrabungen, die auf Spuren altgermanischen Lebens in dieser Gegend hinführen. Am Galgenberge wurde im Jahre 1868 der „Hildesheimer Silberschatz“ gefunden, kostbare Gefäße und Geräte, die als Werke der Schmiedekunst aus römischer Kaiserzeit erkannt worden sind und die vermutlich ein Beutestück aus der Varusschlacht bildeten.

Schwere Stürme zogen über das Land, als Karls des Großen wuchtiges Schwert dem Sachsenvolke tiefe Wunden schlug. Doch als die trotzigen Heiden bezwungen waren, da blühte junges, frisches Leben auf, da wurde der Keim gelegt zu Hildesheims künftiger Blüte. Karl der Große gründete im Jahre 796 ein Bistum zu Elze, und sein Nachfolger, Ludwig der Fromme, verlegte es nach Hildesheim. Das Stift wuchs mit der Zeit an Macht und Bedeutung und es wurde auch zu einer Stätte, an welcher die Kunst eifrige Pflege fand. Unvergeßliche Verdienste haben sich in dieser Hinsicht vor allem die Bischöfe Bernward (993–1022), Godehard (1022–1038) und Hezilo (1054–1079) erworben. Ihnen verdankt Hildesheim den Besitz von Bauten und Erzarbeiten, die heute zu den herrlichsten Denkmälern romanischer Kunst zählen.

In den Mauern Hildesheims wetteiferte jedoch auch der Bürgersinn mit den kirchlichen Fürsten. In den Einwohnern der Stadt lebte der Trotz der alten Sachsen fort. Sie strebten nach Unabhängigkeit, und sie schüttelten die Herrschaft der Bischöfe ab. Die Stadt trat im Jahre 1241 der Hansa bei und erfreute sich wichtiger Rechte und Privilegien. Ein wackerer, arbeitslustiger, aber auch lebensfroher Sinn belebte die Bürger, und sie bauten ihre Häuser so kunstsinnig und eigenartig, leisteten so Meisterhaftes im Holzbau, daß die alten mit Holzschnitzereien und Malereien geschmückten Häuser Hildesheims heute zu den größten Sehenswürdigkeiten zählen. Sie werden auch pietätvoll erhalten, obwohl die Stadt in fröhlichem Wachstum begriffen ist und im Laufe der letzten Jahrzehnte ein durchaus modernes Viertel in der Nähe des Bahnhofes entstand. Der Fremde wandert jedoch rasch durch die neuen Straßen; ihn locken die Altstadt und die Domfreiheit. Hat er die Häuserfluchten mit den modernen Hotels und den großen Schauläden hinter sich, so ändert sich langsam das Städtebild.

Die Straßen werden enger, hier und dort zieht ein Fachwerkhaus mit etagenweise vorspringendem Giebel die Aufmerksamkeit auf sich, man erkennt an den Balken Schnitzerei und bunte Bemalung, man dringt weiter vor und steht plötzlich vor einem Straßenbilde wie vor einer fremden Welt: die bunten Häuser, die reichverzierten Erker, die spitzen Giebel, das alles gehört der Gegenwart nicht mehr an. Man möchte beinah’ erwarten, in den Erkern holde, blauäugige Jungfrauen in altdeutschem Gewande züchtig am Spinnrocken sitzend zu schauen und würdige

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0173.jpg&oldid=- (Version vom 24.8.2023)