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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


begütigend zum Kutscher: „Ja, Hans, ja, fahren Sie nur weiter! … Aber du, Lo’?“

„Fahre nur du voraus, Mutter! Ich gehe … mit Gustl.“

„Aber wo ist er denn?“

„Dort, im Wald. Einem Schmetterling läuft er nach, oder einem Eichhörnchen.“

„Ach, wie sich der Junge wieder erhitzen wird!“ Frau Petri reichte dem Mädchen den Hut des Knaben und ein seidenes Tuch. „Er soll nur den Hut gleich aufsetzen, wenn er auf die Straße kommt … hier zieht es! Und bind’ ihm das Tuch um! Thust du es aber auch wirklich?“

Lolo lächelte. „Ja, Mutter.“

Als der Wagen davonfuhr, kam der Knabe aus dem Wald gerannt, rief der Mutter einen jauchzenden Gruß nach und warf sich wieder mit stürmischer Zärtlichkeit in die Arme der Schwester. Sie drückte ihm das Hütlein aufs Haar und band ihm das Tuch lose um den Rockkragen, daß es den Hals nicht berührte. Dann wanderten sie Arm in Arm neben der Straße hin, und während der Knabe mit sprudelndem Eifer die lange Geschichte seiner kurzen Reise erzählte, schmiegte er sich eng an die Schwester an, als gäb’ es für ihn keine süßere Freude, als so mit ihr zu wandern, ihren Arm zu drücken, ihre Hand zu streicheln und mit leuchtenden Augen immer wieder zu ihr aufzublicken. Doch plötzlich, mitten in seiner plaudernden Freude, verstummte er.

Sie beugte sich zu ihm nieder, sah ihm ins Gesicht und sagte leise: „Ich weiß, an was du denkst!“

„Ach, Lo’!“ Seine Augen füllten sich mit Zähren. „Die ersten Sommerferien … ohne Papa!“ In Schluchzen ausbrechend, umklammerte er die Schwester.

Während auch ihr die stillen Thränen über die Wangen rollten, hielt sie den Knaben umschlungen und an sich gepreßt, bis er ruhiger wurde. Dann wanderten sie langsam und schweigend durch den Wald dahin. Sie kamen zur letzten Höhe, und aus dem Thal herauf grüßte das Dorf mit seinen Wiesen und Gärten.

„Lo’! Unser Haus! Ich seh’ unser Haus!“

Und mit gellendem Jubelschrei, in welchem noch die Erregung nachzitterte, schwang der Knabe sein Hütlein.

Lolo küßte ihn aufs Haar und sagte flüsternd: „Gelt, ja, so schön wie daheim ist’s nirgends in der Welt!“

„Daheim! Ach, Lo’ … wo sollt’ es denn schöner sein?“

„Aber eines mußt du mir versprechen! Wenn wir heim kommen … nicht wahr, Bubi? … dann wollen wir klug und stark sein … und lieb und gut mit der Mutter! Wir dürfen ihr nicht wehthun mit unserem Schmerz … und sie soll nichts anderes sehen als deine Freude, daß du wieder daheim bist und wieder bei ihr!“

„Ja, Lo’! Ich versteh’ schon, was du meinst! Und das versprech’ ich dir auch … lieber beiß’ ich mir die Zunge ab, eh’ ich weine, wenn es Mama sehen kann!“

Sie nickte ihm lächelnd zu. „Aber eines sag’ mir noch!“ Sie nahm das Gesicht des Knaben in beide Hände. „Wenn Papa dich jetzt erwarten könnte … dürfte er Freude an dir haben?“

Ruhig hielt er den Blick der Schwester aus und nickte. „Ja, Lo’, ich glaube schon! Mein Zeugnis … in allen Fächern hab’ ich Eins bekommen. Nur im Betragen … ich bitte dich, sei nicht böse, Lo’ … aber im Betragen hab’ ich Zwei auf Drei. Weißt du, ich passe in der Stunde immer so viel auf, aber ich kann nicht stillsitzen … ich will’s immer, aber ich kann nicht!“

Lächelnd streichelte ihm die Schwester das Haar. „Deshalb brauchst du dir keinen Kummer zu machen. Das wirst du schon noch lernen!“ Sie nahm seinen Arm, und nun schritten sie in das Thal hinunter. „Und da du so gute Zeugnisse heimbrachtest, sollst du auch schöne Ferien haben. Mama und ich, wir werden zusammen helfen, um dir recht, recht viel Freude zu machen! Aber weißt du, Bubi, ganz darfst du auch in den Ferien das Lernen nicht aussetzen. Ich hab’ auch mit Mama schon den Stundenplan eingeteilt. In der Früh’ wird Mama eine Stunde mit dir lernen, und nachmittags oder am Abend, da setzen wir beide uns ein paar Stündchen zusammen. Willst du?“

„Ja, Lo’, ja! Aber gelt … jetzt gleich, da hab’ ich doch ein paar Tage ganz frei. Denn weißt du, ein bißchen ausrennen muß ich mich!“

„Aber natürlich! Bist du zufrieden mit vierzehn Tagen?“

„Vierzehn …“ Das Wort ging unter in einem seligen Jauchzer. „Und darf ich auch wieder fischen? Schon morgen?“

„Ja! Wenn du willst, noch heute am Abend. Der Fischer hat die neue Angelgerte für dich schon fertig!“

„Ach, Lo’, das wird herrlich! herrlich!“

„Vier Tage bleiben wir jetzt zu Hause bei Mama, und dann … das hab’ ich uns von Mama schon ausgebeten … dann darfst du drei Tage mit mir … rate, wohin?“

„Lo’? … Zum Sebensee?“

„Erraten! Ja!“

Die erste Regung des Knaben war stürmischer Jubel. Dann aber wurde er wieder still, und die Wange an den Arm der Schwester schmiegend, flüsterte er: „Ach, Lo’! Da draußen sein … und an Papa denken, wenn ich seine Blumen sehe und seinen Baum singen höre … ich kann’s nicht erwarten, gar nicht erwarten! Wie schön das sein wird!“ Und hastig, als müßte er für solche Freude danken, sagte er: „Lo’! Da nehm’ ich meine Bücher mit! Da draußen, weißt du, da muß ich lernen!“

Zärtlich drückte ihn die Schwester an sich, und wieder gingen sie schweigend am blumigen Saum der Straße hin. Als sie zu den ersten Häusern kamen, wurde ihr Gang immer rascher. Wenige Schritte noch, und sie hatten ihr Heim erreicht.

Das stille Gold des Nachmittages lag über dem kleinen Haus, die weißen Tauben flogen ab und zu, die Stare zwitscherten, und die sonnigen Lüfte waren erfüllt vom Wohlgeruch der Blumen.

(Fortsetzung folgt.)     




Ueber den Schwindel.

Von Nervenarzt Dr. Otto Dornblüth.

Eines der Körpergefühle, die für unser Wohlbehagen durchaus erforderlich sind, ist das einer gesicherten Stellung oder Lage unseres Körpers. Das kleine Kind oder das unerfahrene junge Tier beugt sich sorglos über den Rand eines Bettes oder Tisches hinaus, bis es zu Fall kommt; der Erwachsene weiß aus Erfahrung, daß eine gewisse Vorsicht dazu gehört, überall sein körperliches Gleichgewicht zu behalten. In unserem Gehirn sind eigene Organe, wahrscheinlich die Bogengänge des Ohrlabyrinths, die jeden Augenblick ohne unser Wissen darüber wachen, daß der Körper durch seine Haltung im Gleichgewicht bleibt und seinen Schwerpunkt nicht über den Bereich seiner Unterstützung hinausbringt.

Die Sicherheit der durch diese Organe vermittelten Einrichtungen ist so groß, daß wir für gewöhnlich gar nicht daran denken, daß unser aufrechter Gang etwas Besonderes oder Schwieriges ist. Die Sache ändert sich sofort, wenn uns durch äußere Verhältnisse die Schwierigkeit oder die besondere Bedeutung der Erhaltung des Gleichgewichtes klargemacht wird. So zum Beispiel, wenn wir auf sehr glattem oder sehr unebenem Boden gehen oder auf einem Balken einen Bach überschreiten sollen. Die uns aus Erfahrung bekannte Gefahr des Fallens macht uns vorsichtig und ängstlich, und der Grad der Angst richtet sich einesteils nach dem Maße der Gefahr, andernteils nach der „Aengstlichkeit“ des einzelnen. Liegt der Balken dicht neben anderen, so geht man darauf entlang, ohne sich etwas dabei zu denken; es giebt allerdings ängstliche Menschen, die schon hierbei der Gedanke, auf der bestimmten Linie bleiben zu sollen, in störende Befangenheit versetzt. Führt der Balken über einen flachen Graben, so werden die meisten ihn ohne Schwierigkeiten überschreiten, aber die Sache wird zweifelhafter, wenn der Graben Wasser enthält, und sehr bedenklich, wenn es sich etwa um eine tiefe Spalte (in Gletschern oder Felsen) handelt. Der Einfluß der Vorstellungen geht aus diesen Beispielen deutlich hervor. Aus dem Gedanken an die mögliche Gefahr entwickelt sich die Unsicherheit, und diese kann sich bis zu lähmender Angst steigern. Häufig verbindet sich in diesen Fällen mit der Angst das Gefühl, als habe man schon den Halt verloren, und dies Gefühl einer Gleichgewichtsstörung bezeichnet man als Schwindel.

Es giebt aber noch andere Ursachen für das Gefühl der Gleichgewichtsstörung. Wir sind es gewohnt, daß die leblosen


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