Seite:Die Gartenlaube (1899) 0140.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

die Kunst, haben. Und daß ich ein wirklich hartes Wort über meinen Vater nicht hören würde, das wußt’ ich doch. Hätten Sie nicht Anteil an seinem Schicksal und an seiner Arbeit genommen, so hätten Sie doch unser Haus gar nicht besucht. Und würden Sie nicht gut von seinen Bildern denken, so hätten Sie zu mir von diesem Besuche nicht gesprochen. Auch seh’ ich es Ihren Augen an, daß Sie ein herzliches Wort auf den Lippen haben. Aber seien Sie mir nicht böse, daß ich das so heraussage … wie gut Sie auch von meinem Vater denken mögen, ich selbst denke doch wohl noch besser von ihm! Für Sie kann er doch immer nur der Künstler sein, von dem Sie das eine oder das andere halten … für mich aber ist er doch auch der Vater, das Liebste, das ich auf der Welt besaß. Und hätten Sie über ihn … nicht einmal einen Tadel, nur ein Befremden geäußert … nicht über sein Denken und Fühlen, denn da müssen Sie ihn verstanden haben, ich weiß es … aber vielleicht nur über seine Art zu sehen, über die Eigenart seines Schaffens … ich hätt’ es doch wie einen Tadel empfunden, und mir, seinem Kinde, hätte das weh gethan … gerade von Ihnen! Und weil ich das fürchtete, deshalb schwieg ich.“ Sie legte die Palette nieder und erhob sich. „Aber ich sehe ein, daß ich unrecht that … verzeihen Sie mir!“

Ettingen nahm ihre beiden Hände und sah ihr so herzlich warm in die Augen, daß sie vor diesem Blick in Verwirrung geriet.

„Also darf ich sprechen? Wollen Sie hören, was ich über Ihren Vater zu sagen habe? Aber nein, ich frage gar nicht mehr … denn soll in Ihrem Herzen nicht ein leiser Zweifel zurückbleiben, dann muß ich sprechen!“ Er hörte Stimmen, und als er aufblickte, sah er am Ufer des großen Weihers den Förster mit dem Fischer um die Waldecke biegen. „Schade… da kommen Leute, die mich holen. Aber ich hoffe, noch die Stunde zu finden, die mich ungestört mit Ihnen plaudern läßt. Denn ich habe Ihnen viel mehr zu sagen, als ich jetzt in ein paar Worte fassen kann … und habe manche Frage zu stellen, die Sie mir beantworten müssen … über das Leben Ihres Vaters, über den Entwicklungsgang seines Schaffens, über die Zeit, in der diese Bilder entstanden. Gewiß, ich denke nicht sonderlich gut von der Urteilsfähigkeit der Welt, die so mit dem Tage lebt und schreit … aber sie hat trotz allem Augen und hat doch auch ein Herz … und wäre Ihr Vater damals vor seiner Flucht in die Berge als Künstler schon der gleiche gewesen, der er war, als er den Hermeskopf mit der Viper und den Jesusknaben mit den Faunkindern schuf … die Welt hätte ihn anerkennen müssen, mehr noch, ihn bewundern und lieben!“

Fester umspannte er ihre zitternden Hände.

„Ihr Vater war ein großer Künstler … und ich schränke dieses Wort durchaus nicht ein, wenn ich sage, daß in ihm der Mensch und Dichter vielleicht noch größer war als der Maler. Ich kann Ihnen gar nicht schildern, welch einen tiefen Eindruck ich heute aus Ihrem Hause mit forttrug … einen Eindruck, der den Wunsch in mir weckte: Hätt’ ich diesen seltenen Menschen doch gekannt, hätt’ ich doch mit ihm leben dürfen! Aber ich glaube doch, daß ich ihn kenne, gut und ganz … ich habe ja schon so viel von seinem Leben erfahren, durch Sie und durch andere … seit heute weiß ich auch, wie er starb … wie nur ein großer und guter und starker Mensch zu sterben vermag, der seinem Leben keinen Vorwurf zu machen hat… Ich habe in seinem Hause die Luft des reinen Glückes geatmet, das er sich und den Seinen erkämpfte, ich habe gesehen, was er schuf … und ich kenne sein Kind! Nun weiß ich, wer Ihr Vater war, und kann Ihnen nachfühlen, was Sie bei jedem Gedanken an ihn empfinden müssen! Sie sind ein glückliches Kind!“

Er küßte ihre Hand, und hastig, als möchte er jede störende Begegnung von ihr fern halten, ging er auf die beiden Männer zu, die schon über das Wehr des letzten Weihers kamen.

Regungslos, die Arme halb gestreckt, als hielten sie noch immer seine Hände fest, und die großen schönen Augen feucht verschleiert, stand Lolo Petri am Ufer und blickte über das Wasser zum Wehr hinüber. Doch sie sah nur den einen, der von ihr gegangen war, sah nicht, daß der Förster ihr zuwinkte mit dem Hut, und hörte den Gruß nicht, den er laut, um das Wasser zu übertönen, zu ihr herüberschrie. So stand sie, bis die drei Männer im Thor des Blockhauses verschwanden. Dann atmete sie auf, und wie in einem jähen Sturm von Empfinden preßte sie die Hand, die er geküßt hatte, an ihre Lippen – als möchte und müßte sie ihm danken für seine Worte und wüßte keinen anderen Dank als diesen.

Und nun kam es plötzlich über sie wie treibende Ungeduld. Eilfertig klappte sie den Feldstuhl zusammen, brachte den Malkasten in Ordnung und schabte hastig mit einem Messer das ganze fertige, noch nasse Bildchen von der Leinwand fort, daß auf dem Tuche nur noch ein trüber Schimmer der entfernten Farben zurückblieb. Während sie die zerlegte Staffelei mit dem Sessel zusammenschnallte, blickte sie nach dem Stand der Sonne: „In einer Stunde müssen sie kommen!“

Das Malgerät an einem Riemen tragend, folgte sie einem Fußpfad, bis sie die von Leutasch nach Seefeld führende Landstraße erreichte. Einen Fuhrmann, der ihr mit leerem Wagen entgegenkam, bat sie, ihr Malgerät mit ins Dorf zu nehmen – und sie brauchte den Mann nicht viel zu bitten, man sah es ihm an, daß es ihm Freude machte, ihr eine Gefälligkeit erweisen zu können.

In sachter Steigung klomm die Straße durch den Wald hinauf, und Lolo folgte ihr mit so erregter Eile, daß ihr Atem in heißen Flug geriet und daß ihr die Wangen wie Feuer zu brennen begannen. Hastig schritt sie weiter. Nach kurzem Weg öffnete sich vor ihr eine Waldwiese. An einem Quellbach, der sich bis dicht an die Straße heranschlängelte, waren die Ufer reich mit Blumen bewachsen. Sie sprang über die Straße hinunter, begann zu pflücken, und während sie langsam am Saum der Wiese hinging, sammelte sie zu ihrem Strauß noch immer neue Blumen. Nun erreichte sie wieder den Wald und ließ sich im Schatten der Bäume nieder, um die Blüten zu ordnen. Doch nur ihre Hände waren bei dieser Arbeit, nicht die Gedanken. Bald spielte ein träumendes Lächeln um ihren Mund, bald wieder blickte sie ernst und sinnend vor sich nieder oder in den blauen Schatten des Waldes hinein. – Dann jählings ließ sie den Strauß, den sie gebunden hatte, in den Schoß fallen. „Vater! Vater!“ stammelte sie, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Schluchzen aus. Aber das war kein Weinen in Schmerz – es war ein Weinen in heißer Freude.

Jetzt fuhr sie lauschend auf, sprang zurück auf die Straße und jauchzte. Aus dem Thal, in das sich der Wald hinuntersenkte, antwortete der Jauchzer einer Knabenstimme, hoch und schrillend wie der Ton einer Weidenpfeife.

„Ja! Ja! Sie sind es!“ stammelte Lo’ in einem Sturm von Freude und begann zu laufen. Nun konnte sie die Straße bis ins Thal hinunter überschauen und sah eine kleine, mit einem Pferd bespannte Kutsche kommen. Der Knecht ging neben dem Wagen her, um dem Rößlein die Last über den Berg hinauf zu erleichtern. In der Kutsche saßen eine Frau und ein Knabe, der mit beiden Armen winkte.

Mit klingender Stimme rief Lo’ den Namen des Bruders.

Da ließ sich der kleine Bursch nicht länger im Wagen halten, sondern sprang auf die Straße, noch ehe der Knecht das Pferd zum Stehen brachte, warf das Hütlein in die Kutsche zurück und begann mit solcher Hast den Berg hinauf zu rennen, daß ihm die Mutter in Sorge nachrief: „Gusti! Gusti! Nur langsam! Ich bitte dich … sie wartet ja, bis du kommst!“

Aber der Junge hörte nicht mehr, er rannte und rannte, und schon auf hundert Schritte vor der Schwester breitete er die Arme aus und jubelte mit erstickter Stimme: „Lo’! Lo’! Meine liebe, gute, gute Lo’!“ Und mit so wilder Freude flog er ihr an die Brust, daß sie beinahe wankte unter dem Ansturm dieses schmächtigen Knabenkörpers. Wortlos hielt sie ihn umschlungen und erstickte ihn fast mit ihren Küssen. Als sie sich aufrichtete, hing er mit erloschenem Atem an ihrem Hals, hielt die Wange an ihre Brust gedrückt und brachte nur mühsam die Worte heraus: „Ach, Lo’ … ach, ich kann’s dir gar nicht sagen … wie ich mich freue … weil ich nur dich wieder habe! Dich, Lo’! Dich! Weißt du, es ist doch wirklich nett vom lieben Gott, daß er die Ferien erschaffen hat!“

Lächelnd kühlte sie ihm mit ihrem Tuch die Wange und hielt ihn umschlungen, bis er ruhiger wurde. Dann gab sie ihm die Blumen.

„Lo’? Für mich?“

„Für dich und für die Mutter.“

„Ich danke, danke dir, Lo’!“

Da nahm sie sein Gesicht in beide Hände und sah ihm lange in die Augen – wie zwei klare Sterne blickten diese leuchtenden

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0140.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2023)