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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

zerbricht, zieht das mit Schaum bedeckte Maultier grasend in den Wald, und eine „Heilige Nacht“ – Maria mit dem Kindlein im Stall bei Kuh und Esel, denen ein alter Hirte gedankenlos das Futter vorschüttet, während die Tiere doch nicht an Fraß denken, sondern die Köpfe vom Barren abkehren und ihre staunenden Glotzaugen auf das von Schimmer umflossene Kindlein richten.

Ein drittes, größeres Gemälde füllte die ganze Wand zwischen dem Ofen und der Thür einer Nebenstube. Beim Anblick dieses Bildes glitt ein leiser Ausruf der Bewunderung über Ettingens Lippen – so jäh und tief ergriff ihn der Gedanke, der aus dieser Leinwand redete und mit naiver Allegorie zu ihm sagte: Wahrhafte Liebe kann nicht verdammen und fühlt Erbarmen auch für die häßlichste Mißform des Lebens – mildes Denken und reine Güte versöhnen sich auch mit aller Roheit der ungezügelten Natur!

Das Bild stellte eine von wüstem Dorngestrüpp umzogene Wiese dar, in der Blüte des Frühlings. Mitten in leuchtenden Blumen sitzt ein Knabe, das nackte zarte Körperchen wie Silber schimmernd; aus einer Wolkenlücke des Himmels fällt ein breiter Strahl der Sonne auf ihn nieder; zwei verflochtene Dornzweige des nächsten Busches ragen in diesen Glanz und schweben wie ein schimmerndes Kränzlein über dem Scheitel des Knaben; kein anderes Zeichen sonst – nur diese krönenden Dornen sagen: das ist Jesus, welcher leiden wird um seiner Liebe willen. Und diese Liebe redet schon aus dem Blick und Lächeln des Kindes, welches seltsame Gesellschaft fand. Aus den Dornbüschen, aus Erdlöchern und Sumpftümpeln ist eine Schar von Faunkindern hervorgekrochen, kleine häßliche Bürschlein mit plumpen, unentwickelten Bocksfüßen und schmutzig wie Ferkel, die sich im Schlamm gewälzt. In Schreck oder Neugier starren die einen auf das holde Wunder des göttlichen Knaben, andere greifen nach Steinen und heben sie zum Wurf – nur einer sitzt von den erregten Brüdern entfernt, sucht eine Dornranke von sich abzulösen, die ihm ihre Stacheln in die Hüfte bohrte, und der Schmerz, der aus seinem verzerrten Gesichte redet, macht ihn gleichgültig gegen alles andere. Diesem Leidenden gilt der gute Blick des Knaben, während er den anderen, die ihn fürchten oder bedrohen, herzlich die Arme öffnet: „Kommet zu mir, ich will euch lieben!“

Keines von all den anderen Bildern, welche Ettingen gesehen, hatte so klar wie dieses in ihm die Frage geweckt: „Wie war es möglich, diesen Künstler zu verkennen?“ Oder hatte sich der Genius dieses Künstlers erst nach seiner Weltflucht so reich entwickelt, aus der Bitterkeit seines Schicksals heraus, in der stillen sonnigen Ruhe, die er in diesem Winkel der Berge gefunden, im Schweigen des Waldes? Hatte er in früheren Jahren denen, die ihn verlachten, nichts anderes zu bieten vermocht als die Form ohne den Kern, ohne die Gedankenfülle, die alle Wunderlichkeiten seiner Technik übersehen ließ? Denn freilich bei all der tiefen Wirkung, welche Ettingen fühlte, mußte er zugestehen, daß die Mehrzahl dieser Bilder für den ersten Blick etwas Befremdendes hatte, eine naive Ausdrucksweise, die mit dem dargestellten großen Gedanken sich oft in einem Widerspruch befand, über den man wohl den Kopf schütteln oder lächeln konnte. Auch lag ein bläulich grüner Hauch wie zarter Schleier über allen Farben, auch über dem hellsten Licht – wie über einem Spiegelbild in grünem Wasser – und das gab den Bildern etwas Fremdartiges und Altertümliches. Wollte das der Künstler so, gerade so – oder konnte er nicht anders? Hatte er Augen, welche anders organisiert waren, als es sonst die Augen der Menschen sind? Oder sah er richtig – er kannte und verstand doch die Natur wie keiner – und ging mit dem Geschauten, bevor es durch seine Seele den Weg auf die Leinwand fand, diese seltsame Wandlung vor sich, bei der alles Häßliche sich verschönte und alles Wirkliche die Form des Niegewesenen und des Erträumten gewann.

Aber wie man über all diese äußerliche Seltsamkeit auch denken mochte – der gute, reine, tief empfindende Mensch, den man aus der wunderlichen Sprache dieser Linien und Farben reden hörte, war denn nicht der die Hauptsache? Die klare Schönheit seiner Gedanken, die Wärme seines Herzens, dieses Träumen und Lächeln, dieses Stille und Schlichte, dieses rührend Kindliche – mußte das nicht jeden überzeugen, gewinnen und bezwingen? Oder gehörte die rechte, stille Stunde dazu, um solche Sprache zu hören, sie zu verstehen? –

War der Magd die schweigende Zeit, welche Ettingen vor diesem letzten Bilde stand, zu lang geworden? Oder hatte sie es ihm vom Gesichte abgelesen, was er von den „Taferln“ ihres Herrn dachte? „Gelten S’,“ sagte sie plötzlich, „unser Herr hat’s können! Ja! Und kommen S’ … da därf’ ich sonst kein’ net ’reinführen … aber Ihnen muß ich schon zeigen, wie er ausg’schaut hat!“ Sie öffnete die Thür der Nebenstube. „Da hängt er, schauen S’, wie er sich selm verkonterfeit hat … das is’ der Fräul’n Lo’ ihr Stüberl … vor drei Jahr auf Weihnächten hat sie’s ’kriegt von ihm, die Tafel da.“

Ettingen zögerte, einzutreten, und lächelnd blickte er von der Schwelle in den Raum. Es war von allen Zimmern, die er gesehen hatte, das bescheidenste – ein schmales Stübchen, mit einem einzigen Fenster nur. Weiße Wände, das eiserne Bett mit weißem Tuch überhangen, ein kleiner Tisch mit einfachem Holzstuhl vor dem Fenster, durch das die Blumen hereinleuchteten, der Thür gegenüber ein Pianino und ein Holzgestell mit Notenheften, neben der Thür ein hohes Bücherregal und an der Rückwand des Stübchens eine große schwere Kommode, über welcher, als einziger Schmuck des Raumes, das Selbstporträt des Künstlers hing, umgeben von einem Kranze frischer Alpenrosen.

Dieses Bild war für Ettingen ein neues Rätsel. Er hatte ein schmales, feingeschnittenes Gesicht zu sehen erwartet, mit irgend etwas Auffälligem in den Zügen – vielleicht einen Kopf, der auf einen Musiker raten ließ, mit bleichen Wangen, tiefliegenden Augen und langem Haar. Und da sah er einen derben, grobknochigen Kopf mit dichtem, kurzgeschnittenem Braunhaar und starkem Bart, mit hoher, kräftig gewölbter Stirn und gesundem, sonnverbranntem Gesicht, dem das schöne Antlitz der Tochter in keinem Zuge glich. Nur die Augen, wenn sie auch von anderer Farbe waren, hatten den gleichen träumerischen und warmen Blick, und um diese streng geschnittenen Lippen spielte das gleiche sinnende und milde Lächeln. Das Bild war nur wenige Jahre alt; aber nach Zeichnung und Farbe hätte man auf ein Werk aus der Zeit des jüngeren Holbein raten können. In einer Ecke des graugrünen Hintergrundes sah man ein verschnörkeltes weißes Schildchen, das eine rote Inschrift in lateinischer Sprache trug: „Emmericus Petri, in seinem fünfzigsten Lebensjahre. Eines Menschen Gesicht ist seine Seele nicht. Willst du das Wesen seines Geistes erkennen, so betrachte seine Thaten und seine Kinder.“

Wie stolz mußte dieser Mann auf seine Tochter gewesen sein!–

Während Ettingen noch vor dem Bilde stand, kam der Förster zurück, und zwar in übelster Laune. Er hatte die Erlaubnis für die Steigbauten mit schwerem „Blutgeld“ vom Bürgermeister erkaufen müssen, der allen Überredungskünsten des Försters nur immer die eine Weisheit entgegengehalten hatte: „Der Herr Fürst kann zahlen! Der hat’s!“ Bei dem Aerger, den Kluibenschädl von diesem „Scharfrichtergang“ mitbrachte, hatte er weder Sinn für die „Taferln“ des „Maler-Emmerle“, noch für die Stimmung seines Herrn und schwatzte wortreich seinen Zorn heraus. Ettingen schwieg zu allem und warf, bevor er das Stübchen verließ, noch einen letzten Blick über die Wände und alles Gerät.

Als Ettingen ins Freie trat, blickte er wieder zu der Inschrift über der Hausthür und nickte vor sich hin, als wollte er sagen: Ich sah, was du schufst, und kenn’ deine Tochter … nun weiß ich, wer du warst, und weiß: du hattest ein Recht zur Freude!

Da bot ihm die Magd eine herrliche dunkle Rose und sagte verlegen: „Da, Herr! Unser Fräul’n Lo’, wenn s’ daheim is und einer kommt, schenkt s’ allweil ein Blüml her!“

Lächelnd nahm er die Rose. „Ich danke Ihnen!“

Er wollte der Magd eine Banknote reichen. Aber sie schüttelte den Kopf, holte den Rechen von der Wand und begann auf dem Kiesweg die Trittspuren zu ebnen, die der Förster mit seinen schweren Schuhen zurückgelassen hatte.

Ettingen, dem das Blut ins Gesicht gestiegen war, zerknüllte den Schein in der Hand – und als sich draußen auf der Straße ein alter, weißbärtiger Bauer, der im Schatten der Holunderhecke saß, etwas schwerfällig erhob und den mürben Deckel zog, warf ihm der Fürst die Banknote zu. Der Alte riß die rotgeränderten Augen auf, und dann versuchte er mit seiner

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0135.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2023)