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Und doch ist eine tiefere Verkennung des wahren Verhältnisses nicht denkbar, und doch giebt es nicht nur ein Drittes, sondern es giebt dieses Dritte einzig und allein, oder vielmehr dieses scheinbar Dritte ist das wirklich Einzige, das Urverhältnis, sowohl in der Natur als im Menschendasein, das auch nur ein Stück Natur ist. Nicht Hammer oder Amboß muß es heißen, sondern jedwedes Ding und jeder Mensch in jedem Augenblicke ist beides zu gleicher Zeit.“ Beweiskräftig für diesen Satz ist nicht der ganze Verlauf der Handlung, aber viele Momente derselben streifen den Grundgedanken, und am Schluß prägt er sich klar aus, wenn der Held als Fabrikherr jeden seiner Arbeiter nach dem Verhältnis seiner Arbeitsleistungen und seines Verdienstes zum Teilhaber seiner Fabrik macht. Dieser Held ist ursprünglich ein junger Primaner, der, nach einem Vergehen gegen die Schulordnung von seinem Vater verstoßen, in die Welt hinausabenteuert. Zuerst gerät er in das Haus eines Schmugglerbarons und wird bei einem Kampf zwischen Schmugglern und Grenzbeamten verhaftet und ins Zuchthaus gebracht. Bei einem Aufstande der Sträflinge rettet er den Direktor und wird, schwer erkrankt, von der Tochter desselben, Paula, gepflegt. Freigelassen, wird er Arbeiter einer Maschinenfabrik, dann technischer Leiter derselben. Er heiratet die Tochter des Fabrikbesitzers und nach ihrem Tod jene getreue Pflegerin Paula. Der Roman hat viele glänzende Schilderungen. Das Leben auf dem Raubschloß des wilden Zehren, das Zuchthausleben, der große Sturm und die Rettungsbestrebungen der Züchtlinge, dann die Liebesscene in der Wetternacht: das sind Bilder von großer Anschaulichkeit und dabei von jenem edlen Gepräge des Stils, welches für alle Schöpfungen Spielhagens charakteristisch ist.

Das bedeutendste und geistreichste Werk Spielhagens ist „Sturmflut“ (1877). Der Roman ist das Werk eines schönen und reifen Talents; die Symmetrie der Handlung, welche zu zwei Höhepunkten einer gleichzeitig hereinbrechenden Krisis führt, wirkt durchaus künstlerisch: die Sturmflut, welche die Küsten Rügens verwüstet, und die Sturmflut, welche zugleich mit einem gewissenlosen Gründer zahlreiche Existenzen begräbt, erscheinen beide als elementarische Gewalten, welche in der Natur und in der Gesellschaft ihre Opfer suchen. Als ausgezeichneter See- und Marineschilderer hat sich Spielhagen schon in seinen früheren Romanen bewährt; in der Schilderung der aufgestürmten Ostsee und der von ihr angerichteten Zerstörungen entfaltet sich von neuem das glänzende Kolorit, über welches seine Muse verfügt. Ebenso nimmt unter den Kulturbildern des Romans die Darstellung einer zusammenbrechenden Gründerexistenz, in welcher sich die ganze Epoche spiegelt, einen hervorragenden Rang ein. Die Erinnerungen an die Revolution von 1848 und an den großen Krieg von 1870 sind ungezwungen in das Kulturbild mitverwebt: wir werden durch diesen Roman lebhaft an „Die Ritter vom Geiste“ erinnert, wenngleich er nicht wie das Werk Gutzkows den Anspruch erhebt, ein erschöpfendes Zeitgemälde zu sein; doch die Gruppen der Gesellschaft und die einzelnen Charaktere, die er schildert, vertreten wie bei Gutzkow die verschiedensten politischen und geistigen Richtungen. Nur in einer Hinsicht geht Spielhagen weiter als Gutzkow – er verpflanzt zeitgeschichtliche Charaktere, wie Windthorst, in der durchsichtigsten Maskierung in seine Romankapitel. Man kann dem Roman den Vorwurf machen, daß ihm ein eigentlicher Held fehlt; denn der Schiffskapitän Schmidt, ein tapferer Seemann, der als Reserveoffizier auch den Krieg von 1870 mitgemacht hat, kündigt sich zwar im ersten Bande als die hervorragendste Gestalt der Dichtung an, tritt aber in der weiteren Entwicklung der Handlung wieder zurück, indem sich das Hauptinteresse der Leser anderen Charakteren zuwendet. Doch der große Kulturroman kann als eine neue Gattung betrachtet werden; er darf sich von einschränkenden Bedingungen frei machen und neben den einen Helden andere stellen, wenn es das Gesamtbild so verlangt. Der Gründungsschwindel, Erbschaftsintriguen, der Adel, der seinen Namen und Titel für Geldspekulationen zweifelhafter Art hergiebt, die Leidenschaft der Liebespaare, die mitten durch das Intriguenspiel hindurch ihren eigenen Weg gehen, daneben heitere und ernsttragische Episoden – das wird alles zusammengehalten durch den einheitlichen Grundgedanken. Dabei ist das Werk reich an geistvollen Reflexionen.

Wenn „Sturmflut“ keinen Helden hat, so muß natürlich in einem Ichromane der Held aufs entschiedenste in den Vordergrund treten. Dies ist der Fall in Spielhagens großem Roman „Was will das werden?“, der den Lesern der „Gartenlaube“ ja wohlbekannt ist, da ihn diese (1886) zuerst veröffentlichte. Der Roman enthält sehr anziehende Schilderungen. Das Gymnasialleben in der Hafenstadt, die Romantik des thüringischen Fürstenhofes, das wüste Treiben der Teerjacken in den Hamburger Matrosenvierteln sind farbenreiche Lebensbilder; die Vorgeschichte, in welche die Mutter des Helden verwickelt ist, mit ihren romantischen Voraussetzungen und ihren sich allmählich lösenden Rätseln hält die Teilnahme wach.

An Wert und Bedeutung stehen hinter den maßgebenden Werken Spielhagens einige andere Romane trotz vieler glänzenden Einzelheiten zurück. Zum Teil tragen sie einen stark ausgeprägten tendenziösen Charakter, wie „Die von Hohenstein“ (1865), einer der ersten Romane Spielhagens, der gleich auf die „Problematischen Naturen“ folgte, aber durch die Häufung greller Effekte in einer hin und her flackernden revolutionären Beleuchtung und durch eine Art moderner Räuberromantik hinter den „Problematischen Naturen“ beträchtlich zurückstand. Zum Teil grenzen diese Erzählungen an die Novellen, mit welchen Spielhagen seine ersten Erfolge errungen und die sich durch feines künstlerisches Gepräge und treffliche Stimmungsmalerei auszeichneten. Auch der kürzere, in der „Gartenlaube“ mitgeteilte Roman „Was die Schwalbe sang“ (1872), in welchem das Gemütsleben und der landschaftliche Hintergrund auf harmonischen Einklang gestimmt sind, hat diesen poetischen Vorzug. Der Roman „Uhlenhans“ (1884) hat zum Helden einen eigenartigen Charakter, den man ein männliches Aschenbrödel nennen könnte. Er wohnt auf der Insel Rügen als ein einäugiger Cyklop von erstaunlicher Gutmütigkeit, der gerade dadurch in die schmerzlichsten Konflikte gerät. Der Roman beginnt mit einer abgeschlossenen Novelle, was für die Oekonomie des Ganzen und den weiteren Fortgang der Handlung nicht vorteilhaft ist, und führt durch einige grelle Katastrophen zu einem tragischen Abschluß. Von den neueren Erzeugnissen des Dichters hat das „Sonntagskind“ (1897), wenngleich der erstrebte Reiz märchenhafter Romantik seiner Dichtweise fernliegt, doch viel Anziehendes in Erfindung und Charakteristik, während „Faustulus“ (1898) das Uebermenschentum moderner Faust-Don Juans in eine teils tragische, teils ironische Beleuchtung rückt. Die „Herrin“ (1898) hat zum Mittelpunkte einen problematischen Frauencharakter, in welchem gleichsam der Uebermensch Nietzsches ins Weibliche übersetzt ist, eine junge Dame, geistreich, vielseitig gebildet, aber nur darauf bedacht, sich gesellschaftlichen Glanz zu erobern. Sie will einem in Vermögensverfall geratenen Grafen ihre Hand reichen, aber an der vorher gar nicht aufgeworfenen Frage der jüdisch-christlichen Mischehe scheitert zuletzt ihre Spekulation und geht sie selbst zu Grunde.

Auch als Dramatiker hat Spielhagen Erfolge zu verzeichnen; die Schauspiele „Hans und Grete“ und „Liebe für Liebe“, von denen das letztere vaterländische Begeisterung atmet, sind über viele Bühnen gegangen.

Wie unsere großen Dichter der klassischen Zeit hat sich Spielhagen nicht bloß den Impulsen dichterischer Schöpferkraft hingegeben, sondern sich auch mit der Theorie der von ihm gepflegten Dichtgattungen beschäftigt, was besonders seine Schrift „Beiträge zur Theorie und Technik des Romans“ (1883) beweist. Hierzu gehören auch die Bände „Aus meiner Studienmappe“ (1890) und „Finder und Erfinder“ (1890), in welch letzterem Werke der Dichter uns seine Jugend schildert. Auch sinnvolle Gedichte hat Spielhagen herausgegeben (1892) und so ist der Dreiklang des epischen, dramatischen und lyrischen Dichters ein vollständiger.

Als ein Romanschriftsteller von großem Erzählungs- und Darstellungstalent, nicht in dunklen Schachten der Vergangenheit wühlend, sondern den großen Aufgaben der Gegenwart verständnisvoll zugewendet, nimmt Spielhagen einen hervorragenden Rang unter den Schriftstellern der Gegenwart ein. An die Zeitromane von Karl Gutzkow anknüpfend, hat er auch manche Elemente der modernen Richtung, welcher er im ganzen sympathisch gegenübersteht, in seine neuesten Erzeugnisse aufgenommen; doch nirgends ist das Flache und Häßliche vertreten, niemals ist er in die Niederungen hinabgestiegen, sondern hat sich stolz auf jener Höhe gehalten, auf welcher die Meister unserer klassischen Zeit sich dauernden Nachruhm erworben haben. Rudolf von Gottschall.     

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0111.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2023)