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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Im nächsten Augenblick fuhr es ihr durch den Kopf: Was muß das für eine sein – die will ich mir einmal näher besehn – jawohl!

Zum erstenmal in ihrem Leben konnte Frau Stehle in der Nacht ihren gewohnten Schlaf nicht finden. Bin ich denn krank? fragte sie sich, was hab’ ich nur – warum, ums Himmels willen, ist mir so schrecklich schwer und kurios zu Mut?

Sie warf sich herum, vergrub das Gesicht in ihrem Kissen, sie fing an, laut mit sich selbst zu schelten; es half nichts, die innere Stimme drang durch, die ihr sagte: dies Kind hat dich beschämt – dies Kind hat dich untergekriegt.

Sie fuhr in die Höhe und machte Licht. „Was ist denn los?* fragte die schlaftrunkene Stimme des Mannes.

„Nix,“ gab sie zur Antwort, „’s ist mir nur öd’, ich muß was esse.“ Sie ging in die Küche, stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich daneben und fing an zu schluchzen, als ob sie alle die Thränen, die sie in ihrem Leben zu weinen versäumt hatte, in diesem Augenblick nachholen wollte.

Am andern Morgen war sie noch rascher, noch thätiger als sonst; das ging wie der Wirbelwind durch alle Stuben, treppauf, treppab. Der Mann, der sich im Schlafzimmer für die Kirche fertig machen wollte, konnte kaum mit seinem Scheitel zu Streich kommen, weil ihm der Durchzug immer wieder die Haare durcheinander jagte. Er schloß eines der Fenster, und als die Frau herein kam und wieder alles aufreißen wollte, fing er an zu brummen, worauf sie der Nachbarschaft wegen ihr Vorhaben aufgab. Aber es war eine solche Unruhe in ihr, daß sie vor dem Fenster, das sie nicht öffnen durfte, stehen blieb und einen Marsch auf den Scheiben trommelte.

„Ich hab’ einmal einen Eisbär in seinem Käfig ’rumtanze sehe, gerad’ so bist,“ sagte der Gatte, worauf sie miteinander zur Kirche gingen.

Das Christkind lag noch vom Weihnachtsfest her in seinem Kripplein, von hohen dunklen Tannen umgeben, und die Kleinen knieten haufenweis’ auf den Stufen des Altars, dem Jesulein so nahe wie möglich. Just kam die Sonne einmal wieder nach all den häßlichen Regentagen und drang durch die farbigen Fensterscheiben, einen freudigen Glanz über die liebliche Kindergruppe gießend. Der Geistliche auf der Kanzel aber hatte zum Text seiner Predigt den Spruch erwählt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht!“

Frau Stehle in ihrer Kirchenbank horchte nicht viel hin; sie hatte diese Stunde, in der sie notgedrungen mit müßigen Händen dasitzen mußte, stets dazu angewandt, ihr Wochenrepertoire zu entwerfen: Montag Wäsch’ einseife, Bureauzimmer eins bis sieben; Dienstag Wäsch’, Zimmer acht bis vierzehn –

So hatten ihre Gedanken aus alter Gewohnheit den Weg eingeschlagen, den sie immer zu gehen pflegten, als ihr plötzlich das Bild, das sie die ganze Nacht vor Augen gehabt, wieder einfiel – der Polde, wie er da draußen stand im Regen, zitternd vor Kälte, mit eingebogenen Knieen – so dürftig, so über alle Begriffe dürftig.

Fort damit! – sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht; es kitzelte sie so eigen in der Kehle – weinen, um Gottes willen, was würde man denn in der ganzen Kirche von ihr denken – sie, die heitere, die tüchtige, alleweil redselige Frau Stehle und weinen –

Sie schluckte ein paarmal und lauschte dann mit großer Anstrengung der Predigt, ohne recht zu fassen, was sie hörte. Plötzlich aber schlugen ein paar Worte an ihr Ohr, Worte, die sie schon oft vernommen hatte, ohne sich je etwas dabei zu denken. Es war die Rede Jesu an seine Jünger, in der er sie auf das Beispiel der Kinder verweist: wenn sie nicht würden wie die Kinder, so werde ihnen das Himmelreich verschlossen bleiben. „Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“

Frau Stehle beugte sich vor, die Hände krampfhaft gefaltet, das Gesicht mit Glut übergossen: „Ich – ich – aber lieber Gott, so vergiß doch nit – meine Ordnung, meine Sauberkeit – und was ich leist’, was ich leist’, lieber Gott – auch die Arme; hab’ ich je versäumt, ihne meine alte Sache zu gebe – Sache, die oft noch recht gut ware, und – und –

Aber das Kind,“ unterbrach sie sich plötzlich selber, „ja, das hab’ ich drauße stehe lasse – was das Kind an dem Hund gethan, das hab’ ich nit an dem Kind gethan – Herrgott im Himmel,“ seufzte sie in tiefster Zerknirschung auf, „hab’ ich müsse vierzig Jahre alt werde, eh’ ich mein Christentum verstande hab’!“

Der Gottesdienst war zu Ende. „Geh’ du heim,“ sagte Frau Stehle zu ihrem Manne, „ich mach’ noch einen Besuch.“

Unterwegs kehrte sie in einem Bäckerladen ein und kaufte ein halbes Dutzend Brezeln, dann eilte sie mit ihren festen kurzen Schritten dem östlichen Stadtteil zu, bog in eine enge Gasse mit uralten einstöckigen Häusern und suchte nach einer Nummer; dann trat sie in ein Haus von schmutzig grüner Farbe, das noch vernachlässigter als die übrigen aussah.

Sie klopfte an eine Thüre im dunklen Flur; eine Frau rief Herein und öffnete. Frau Stehle fuhr fast zurück, so erstickend war die Hitze in dem unordentlichen Raum; ein paar ungemachte Betten standen herum, in einem lag ein Kind, vier andere saßen am und auf dem Tisch und vertilgten gebratene Kastanien; auch die Frau hatte den Mund voll; sie trug eine schmutzige Nachtjacke über einem vielfach durchlöcherten Unterrock.

Die Kleinen waren weder gewaschen noch gekämmt und trugen kaum das Nötigste. An den Wänden aber hingen allerlei bunte Röckchen und Mäntelchen, die neu aussahen.

Frau Stehles erstes Wort war, als sie über die Schwelle trat: „In der Luft halt’s kein Mensch aus!“ worauf sie das nächste Fenster aufriß und dann dem Weib erklärte:

„Da bin ich; ich hab’ gedacht: mußt auch einmal dem Polde seine Eltern besuche.“

„Recht schön von Ihne,“ meinte die Frau und schob dem Besuch einen Stuhl hin.

„Hm ja, hm ja,“ sagte Frau Stehle, „es scheint ja alles recht gesund zu sein; den Haufe Kastanie, du meine Güte! Wo ist denn der Polde?“

„Komm emal vor du, hinterm Ofe!“ rief die Frau über ihre Schulter weg.

Der Polde erschien in einem Aufzug, daß Frau Stehle die Hände zusammenschlug. „Aber warum hat er denn ums Himmelswille nit emal am heilige Sonntag seinen gute Anzug an?“

Die Frau lachte: „s’ ist halt noch einer da in seinem Alter; wenn der Polde heim kommt, schlupft der Fritzle nein, gelt du?“ wandte sie sich an den Buben, indem sie ihn ein wenig in die Seite stieß. Er verzog keine Miene.

„Scheint’s, er ist daheim auch nit freundlicher als bei mir?“ meinte Frau Stehle.

„Der,“ lachte das Weib auf, „das ist der echt’ Straßeköter; in der Früh’ geht er fort und nachts kommt er heim.“

„Aber zum Mittagesse ist er doch da?“

„Gott bewahr’, dem ist ja nix gut genug, ich mag noch so oft zu ihm sage: nimm dir, nimm dir; ich sag’ immer zum Mann: laß ihn gehe, der wird wo anders gefüttert.“

Frau Stehle war es ganz heiß geworden; sie gedachte der altbackenen Brotrinden, die der Polde vom Hundefutter genommen hatte.

„Polde,“ sagte sie, den Knaben näher an sich heranziehend, „geh’, sag’ mir die Wahrheit, ich bitt’ dich um alles in der Welt, warum gehst du nit heim zum Mittagesse, wer giebt dir was? du mußt doch hungrig sein?“

Sie fragte, sie flehte, er blieb stumm. Das Weib lachte ohne Unterlaß: „Der und rede – ich sag’ Ihne, Frau Stehle, eher geht die Welt unter, als daß der ’s Maul aufthut, wenn er nit mag.“

Frau Stehle ließ den Knaben los. „Ist Ihr Mann nit daheim?“

„Er holt was zum Mittagesse; Sonntags, wenn er daheim ist, da laß ich mir’s wohl sein. Er hat schon ’s Wasser in Ofe gestellt, da braucht er nur die Würst’ ’nein zu werfe.“

„Das thut bei Ihne der Mann?“ verwunderte sich Frau Stehle.

„Jawohl, und warum denn nit? Ich hab’ eine gute Partie gemacht, ich will mich nit totschaffe; vier bis fünf Mark verdient er im Tag, da kann man sich’s wohl sein lasse.“

„Ja, wenn er aber doch so viel schaffe muß in seinem Beruf, da könne Sie doch nit verlange, daß er auch noch die Arbeit im Haus thut?“

„Verlange thu ich’s nit, aber wenn er heim kommt, so nimmt er mir halt ab, was er kann; das ist doch gescheiter als

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0090.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2020)