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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Frau Stehles Antipathie.

Novelle von Hermine Villinger.


Die Bewohner am Schloßplatz wurden seit einiger Zeit durch das tägliche Erscheinen eines großen zottigen Schäferhundes beunruhigt, der alle Anzeichen der Herrenlosigkeit und eines gänzlich herabgekommenen Zustandes an sich trug.

Er setzte sich gewöhnlich mitten auf die Straße, wo er in ein großes Jammergeheul ausbrach, als wollte er alle Menschen zu Zeugen seines abgrundtiefen Elends anrufen. Blieb jedoch ein Vorübergehender stehen und sah nach ihm hin, so ergriff das Tier schleunigst die Flucht. Gegen Abend verschwand er vom Schloßplatz, um am andern Tag zur Mittagsstunde wieder zu erscheinen.

„Polde,“ sagte Frau Stehle, die Kanzleidienersfrau, zu dem kleinen Burschen, der ihr die Kohlen trug, „geh’ mal ’naus und bring’ dem Hund ein paar Knoche, das Geheul kann man ja nimmer mit anhöre.“

Der Kleine trat mit seinem Vorrat auf die Straße und warf dem Hund einen Knochen hin. Das Tier sah ihn liegen, wimmerte leise und traute sich nicht von der Stelle. Ein zweiter Knochen flog heran, der den Hund fast traf; er machte Kehrt, wandte sich aber im nächsten Augenblick um und stürzte wie wütend auf den Knochen los. Während er ihn zerbiß und zernagte, zitterte er am ganzen Körper.

Das Kind warf ihm Knochen um Knochen hin; ein hartes Stück Brot, das unter dem Abfall gewesen, hatte es in die Tasche gesteckt. Als der Hund mit seinen Knochen fertig war, kam er um einen Schritt näher und sah den Kleinen fest an, beinahe herausfordernd, so daß der schnell in die Tasche griff und das Brot holte.

Es war aber so hart, daß es sich nicht zerbrechen ließ, der Kleine ging deshalb zum nahen Brunnen und weichte es ein wenig auf, sodann gab er die eine Hälfte dem Hund und steckte die andere in die Tasche. Das Tier war schnell fertig, setzte sich nieder und ließ den Blick nicht von des Knaben Händen.

Es entspann sich ein Kampf in der Brust des Kleinen; er wollte gehen, aber er brachte es nicht über sich, der Blick des Hundes schien ihn förmlich festzubannen – dieser Blick des Elends, des Hungers und der Not. Verstand er diese Sprache, der kleine blasse Mensch, mit den magern, vom Kohlentragen schwarz gefärbten Händen?

Eine Weile standen sie so, Aug’ in Aug’, der Hund und das Kind, wie gesonnen, einander auf ihre Ausdauer hin zu prüfen. Dann griff der Knabe mit einem Seufzer in die Tasche und warf dem Hund den Rest des Brotes hin. Der verschlang den Bissen, schluckte ein paarmal und legte sich dann nieder, die Schnauze auf die ausgestreckten Pfoten bettend; er schien genau zu wissen: es war nichts mehr zu erwarten.

„Polde, Polde,“ ließ sich die kräftige Stimme der Frau Stehle vernehmen, „Herr du meine Güte, in der Zeit hätt’ ich die Hund’ von der ganzen Stadt gefüttert; ’s ist halt kein Trieb in dir, kein Tummeleifer! Ich sag’ dir’s und du merk’ dir’s: wenn du nit bald deine Lahmheit ablegst, in vier Woche sind wir fertig miteinander.“

Sie gingen durch den Flur des Vorderhauses; im Hof zu ebener Erde lag die Wohnung. Polde fuhr in ein Paar Strohschlappen, und auch in diesen wagte er kaum fest auf den mit Sand bestreuten Dielen des schmalen Vorplatzes aufzutreten.

Die Frau war in die Wohnstube gegangen und hatte die Thüre offen gelassen; es war ein Eckzimmer mit drei Fenstern, die sämtlich weit offen standen. Infolgedessen war hier alles in Bewegung: die Vorhänge mit den wundervoll gehäkelten Einsätzen und Spitzen, die Enden der ebenfalls gehäkelten Tischdecke, wie gepeitscht zappelten sie um den Tisch herum; der Lampenschirm, eine Häkelei auf rosa Seidenpapier, knisterte wie ein kleines Holzfeuer. Der ganze Raum machte den Eindruck einer Häkelmusterausstellung, und jeder mußte es einsehen, daß auf diesem blütenweiß überhäkelten Kanapee unmöglich ein Mensch Platz nehmen durfte. Herr Stehle setzte auch nie den Fuß in dieses Zimmer, das er den „Luftballon“ nannte.

Frau Stehle suchte in der obersten Schieblade ihrer Kommode nach kleinem Geld.

„Erdöl, Schmierseif’, Stiefelwichs – zehn – zwanzig – dreißig – verstande, Polde?“

Er gab keine Antwort; mit vorgestrecktem Oberkörper stand er auf der Schwelle, nach jener Wand der Stube starrend, wo der große Schrank stand, ein schönes altes Möbelstück mit eingelegter Arbeit. In die kranken rotumränderten Augen des Kleinen war plötzlich Leben gekommen; er sah nichts mehr als diesen Schrank.

Da fuhr die Frau herum. „Ob du mich verstande hast?“

Der Knabe schaute sie mit einem so dummen Ausdruck an, daß sie ihn in heller Wut bei den Schultern packte.

„Jetzt sag’ mir nur eins: ob du überhaupt was in deinem Schädel drin hast, will ich wisse – hast was drin oder nit?“

„Den Schrank,“ stotterte er.

Sie lachte laut auf: „Den große Schrank? Ja, was thut denn der in deinem Kopf?“

Er wurde dunkelrot. „Möbelschreiner will ich werde!“

„Du! o lieber Polde, da muß man ein anderer sein; zum Straßekehrer, ja, da könnt’s knapp reiche, von dene tummelt sich auch keiner; alle Eimer im ganze Quartier könnt’ ich ausgeleert habe, bis so einer mit einem Eimerle zu Streich komme ist.“

Frau Stehle war der Schaffeifer in Person; wie ein Wirbelwind ging’s bei ihr treppauf, treppab; die Bureauzimmer, die Bureauöfen, das ganze Haus von oben bis unten hielt sie blank und rein. Dazwischen trieb sie ihr altes Geschäft weiter; sie war eine, wie sie von sich selbst sagte, weltberühmte Büglerin gewesen, und den liebsten ihrer Kunden lieferte sie nach wie vor eine Wäsche, die nicht ihresgleichen hatte.

Die rotwangige, rundliche, äußerst appetitliche Frau zählte jetzt vierzig Jahre; mit dreißig hatte sie sich verheiratet; kurz darauf war ihr die Mutter gestorben. Frau Stehle machte ihren Schmerz so gründlich ab wie ihre Putzereien; sie weinte zwei Tage und zwei Nächte lang, bis sie kein einziges trockenes Taschentuch mehr hatte; hierauf setzte sie das kleine Stübchen, das ihre Mutter bewohnt hatte, unter Wasser, bürstete und fegte wie besessen herum und erklärte: „So, das wird jetzt ’s Bubezimmer.“

Es blieb aber leer; da Frau Stehle nie Zeit zum Nachdenken hatte, machte sie sich auch keinen Kummer darüber.

„Ich hab’ genug Kreuz,“ konnte sie sagen, wenn sie ihren Mann die Treppe herunterkommen hörte – eins, zwei – eins, zwei – so bedächtig, daß ihr die Ungeduld in allen Gliedern zuckte. Und so war er im Sprechen, im Schaffen und im Denken; es pressierte ihm nie, er that seine Pflicht und damit war’s aus. Frau Stehle aber dachte manchmal bei sich selbst: Jesses im Himmel, wenn mein Mann einer wär’ wie ich eine bin, man thät ja auf uns deute!

Und so war sie den ganzen Tag hinter ihm her, schalt über sein langsames Thun und suchte ihm ihren Eifer einzutrichtern. Aber sie kam nicht durch; Stehle war ein breitspurig auftretender Mann mit kühn gedrehtem Schnurrbart und einer außergewöhnlich tiefen Baßstimme; jeder mochte ihn leiden, denn er hatte immer ein Späßchen zur Hand und eine ungemein behagliche Art, jedem, mit dem er zu thun hatte, etwas von seinem Seelenfrieden mitzuteilen. Nur bei der Frau gelang es ihm nicht; ja, so ungern er auch unerfreuliche Angelegenheiten ins Auge zu fassen liebte, er sah es kommen, bemerkte es an einzelnen Aeußerungen seiner Kollegen im Hintergebäude – mit seiner Herrschaft im Hause war es nicht mehr weit her.

„Jetzt sag’ mal, Stehle,“ rief ihm die Frau eines Tages schon auf der Treppe des Vorderhauses entgegen, so daß es die ganze Nachbarschaft hören konnte, „in wie viele Wirtschafte hast du heut’ wieder dein Mäpple spaziere trage?“

Da wußte er sich in seiner Verlegenheit nicht anders zu helfen, als indem er in ein Brummen ausbrach, in ein Brummen, das ungefähr dröhnte wie das nicht allzu ferne Grollen eines Gewitters. So ging er hinter der Frau her, den Gang entlang, und merkwürdig, mit keinem Wort begehrte sie mehr auf. „Ach Gott, Stehle,“ sagte sie, als sie in ihrer Wohnung waren, „um Gottes Wille, sei doch kein so Wüterich; das hört man ja bis in die Kaiserstraß’ – was solle denn die Leut’ von unsrer Eh’ denke, wenn du so wüst thust!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0084.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2023)