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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

überlieferten braunen Holzarchitektur der Wohnungen, Speicher und Ställe. Ganz wie in Wallis stehen hier überall am Wege die sogenannten „Stadel“, das sind blockhausähnliche Vorratskammern, mit Steinen oder Schindeln gedeckte Holzkasten, deren Tragboden auf „Steinpilzen“ ruht, pilzkopfähnlichen Steinen, die den Nagern aus Feld und Wald den Zutritt verwehren. Der Mensch ersteigt sie durch eine Leiter. So ein Ding, in Italien sonst nirgends zu schauen, nimmt sich im Grünen äußerst malerisch aus.

Hier lagerten früher die hundert Jahr alten, ungenießbar gewordenen großen Käse, Familienerbstücke und Stolz der Familie, hier hing das Brot, das noch immer im Vorrat auf ein Jahr gebacken und so hart wird, daß besondere Maschinen zu seiner Zermalmung erfunden werden mußten; hier dörrte das Schaf- und Bockfleisch an dem scharfen Luftzug der Berge zu einer hornartigen Masse zusammen, dessen spätere Bearbeitung die Kunst des Holzschnitzers mit starken Armen und schärfstem Messer herausfordert, von der Bearbeitung durch die Zähne ganz zu geschweigen. Im Thale von Gressoney ißt man herzlich schlecht, und auf den Bergen darüber soll’s noch viel schlechter bestellt sein.

Auf der Weide.

Aber gesund sind die Menschen, wenn auch hager und abgearbeitet, und – ein Haupterbteil des deutschen Stammes – äußerst zufrieden und heiter ohne Lärm. Ich sprach eines Tages eine nicht wohlhabende Frau, Victoria Rial ist ihr Name, über die mancherlei Entbehrungen, die sie in dieser Weltferne zu ertragen hätten. Wie eine Heilige erschien sie mir, da sie die Hand auf die Brust legte und in ihrem treuherzigen germanischen Dialekt sprach: „Ich bin zufrieden, ja glücklich. Und wenn der Herrgott an mich heranträte und fragte mich um einen zu erfüllenden Wunsch, ich würde sagen: lieber Gott, ich danke dir, ich habe keine unerfüllten Wünsche.“

Es berührt eigentümlich, auf diesem italienischen Boden, wo in vielen Ortschaften auch noch französisch gesprochen wird, deutsche Laute zu hören. Am ersten Tage, wo ich mich des hier herrschenden deutschen Wesens noch kaum erinnert hatte, kniete ich an einer Halde und stach mir einige Pflänzchen der reizenden Gentiana nivalis aus. Da schritt vom Fußpfade quer über das Grün eine alte hagere, sehr saubere Frau auf mich los, neugierig wohl, zu sehen, was der fremde Mann da treibe.

„Gott grüetz-i, Herra,“ heimelte es mir aus ihrem Munde auf italienischem Boden entgegen, „was machet-er do?“

Ich sei auf der Kräutersuche.

„Was isch des für e’ Chrüetli, was-er da hent?“

Ich sagte ihr den Namen, sie fragte weiter: ,Isch es zu öppes guet? Wenn-t-er en Chrüttler (Kräutersammler) seid, weiter obe an der Sonnethalb (Sonnenseite) häts no bessers.“

Ich fragte die treuherzige Alte, ob sie auch italienisch spreche; ja, sie verstehe außerdem auch die französische Sprache. Die Leib- und Muttersprache der Alten sei aber das Deutsche und deutsch sei bis auf diese Tage auf der Kanzel gepredigt, in der Schule unterrichtet worden. Sie wußte die Namen der deutschen Geistlichen, die in diesem Jahrhundert hier amtiert, sämtlich zu nennen: Bärenfaller, Leiter, Lateltin, Netscher, Dreißiger, Bezle; der jetzt hergeschickte heißt Berguet, französischen Stamms, denn der Bischof von Aosta, zu dessen Diöcese das Gressoneythal gehört, wolle nichts mehr wissen vom Deutsch als Kirchensprache. Er will das Thal französisch machen und übt vielfach Gewalt.

Nur zwei deutsche Kirchenlieder giebt’s noch: das Neujahrslied und das Dreikönigslied; doch deutsche Reimverse stehen geschrieben auf den Gräbern der alten Pfarrherren und deutsch sind die Grabinschriften auf den Kirchhöfen, wie auch die Liebeserklärung des Burschen an sein Mädchen deutsch gemacht wird. Bislang heirateten die Thalbewohner vorzugsweise unter sich: so blieb der Stamm rein, so blieben die Gewohnheiten und Gebräuche der Urväter treu bewahrt.

Die Johannisprozession.

Noch heute trägt die weibliche Bevölkerung den leuchtenden roten Tuchrock, wenn auch das Tuch dazu nicht mehr wie früher im Thal gewoben wird. Noch in jüngster Zeit trug die Braut die eigentümlich geformte, reich mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0057.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2023)