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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Schon begann im fernen Osten ein mattes Dämmern, und die Sterne wollten erlöschen. Schwarzgrau dehnte sich das betaute Almfeld, der Brunnen plätscherte, und halblaut bimmelte die Glocke eines Rindes, das irgendwo im Grase lag. Ganz deutlich unterschied man schon im Zwielicht die grobe Mauer der Sennhütte und in dem trüben Mauergrau das schwarze Fensterchen.

Dieses Fenster betrachtete Pepperl mit wägenden Blicken. Das heilige Pflichtgefühl – das heißt die Verantwortung, die er dem alten Brentlinger gegenüber zu haben glaubte – war ihm mit solcher Heftigkeit „eingeschossen“, daß er ganz unmöglich zur Morgenbirsche ausziehen durfte, ohne dem „dalketen Madl“ eine ernste Warnung zu erteilen.

Mit langen Sprüngen rannte er über das Almfeld hinunter wie einer, der gestohlen hat. Aber da hörte er im nahen Hegerhäuschen den rasselnden Wecker gehen. Schnaufend hielt Pepperl inne und besann sich.

„Na na! Das braucht ja keiner z’ wissen, daß ich ihr ein bißl predigen muß!“

Und just, als hinter den trüben Scheiben des Jägerstübchens der Lichtschein aufging und Mazeggers Silhouette im hellen Fenster erschien, drückte sich Pepperl um die Ecke der Almhütte. Daß die Thüre geschlossen war, machte ihm wenig Kopfzerbrechen, denn er kannte den primitiven Mechanismus dieses Schlosses: mit dem Messer fuhr er durch eine Spalte der Bretter und hob innen ohne Mühe den Riegel auf. In der Sennstube herrschte rabenschwarze Finsternis. Da war denn der Weg zu Burgis Kammerthür ohne einiges Stolpern und Gepolter nicht zu finden.

Hätte die junge Sennerin auch den Schlaf einer alten Bärin gehabt, sie hätte erwachen müssen bei dem Spektakel. „Mar’ und Josef! Was is denn?“ klang Burgis schlaftrunkene Stimme aus der Kammer.

„Nix is’s! Gar nix! Na na! Bloß ich bin’s!“ flüsterte Pepperl durch die Klumsen der Kammerthüre, sanft und freundlich wie ein guter Hirte zu seinem Schäflein reden muß. „Und weißt, ein bißl was sagen muß ich dir! Ganz ebbes Wichtigs! Ja! Geh’, Burgerl, geh’, sei g’scheit und komm ein bißl aussi!“

„Fahr’ ab, du da draußen! Gelt! Und laß mich schlafen!“

Diese widerspenstige Antwort machte den Praxmaler-Pepperl seufzen und brachte ihm die bittere Erkenntnis bei, welch eine schwierige und undankbare Aufgabe es ist, den Menschen das Gute und Rechte zu predigen. Einige Sekunden blieb er lautlos vor der schwarzen Thüre stehen. Dann pochte er schüchtern mit dem Knöchel an die Bretter und flüsterte mit aller Traulichkeit, deren seine vor Erregung bebende Stimme noch fähig war:

„Schau, Burgerl, thu net trutzen jetzt! Geh, Madl, komm, sei g’scheit und mach’ ein bißl auf! G’wiß wahr, ich mein’ dir’s gut … und so viel sorgen thu ich mich um deintwegen, ja … drum schau, ich muß dir was sagen!“

„Schlafen laß mich!“

„Na, Burgerl! Na! Ich därf dich net schlafen lassen! Ich muß dir ein paar Wörteln sagen in der Güt’ … ich hab’ die Verpflichtigung …“

„Was? Verpflichtigung? Ja freilich, da kannst recht haben,“ klang es mit gereiztem Lachen aus der Kammer, „die Verpflichtigung hast, daß dich niederlegst auf deine Ohrwascheln und dein’ Dampus verschlafst!“

„Auf Ehr’ und Seligkeit, Madl, ich bin so nüchtern wie der Pfarrer vor der Fruhmeß’ …“

„Hörst, du, laß die heiligen Sachen aus’m Spiel! So was vertrag’ ich net … z’ mittelst in der Nacht schon gar net!“

„Madl, ich sag’ dir’s im guten, thu mich net abweisen! Dein Glück is am Spiel … hörst, Madl … dein Glück! Mach’ auf, sag’ ich … oder es reut dich noch einmal, daß d’ ein’ abg’wiesen hast, der ’s ernst und ehrlich mit dir g’meint hat als ein rechtschaffener Mensch …“

„Ja hörst denn noch allweil net auf? Jetzt wird’s mir aber z’ dumm, das muß ich schon sagen!“ Heißer Unmut bebte in der Stimme der Sennerin. „Bis um Zwölfe in der Nacht hab’ ich enker rauschige Metten in der Hütten haben müssen … in der Fruh muß ich wieder frisch bei der Arbeit sein, und da soll ich net einmal die paar Stündeln schlafen können in der Ruh’? Fahr ab, sag’ ich! Für heut’ hab’ ich g’nug von enk alle miteinander! Und mit dir? Mit dir bin ich ganz fertig! Verstehst! Das is ’s letzte Wörtl g’wesen! Gut’ Nacht!“

Pepperls Geduld war zu Ende. Er sah es deutlich ein: bei dieser verstockten Seele war in Güte nichts auszurichten – dem heiligen Zweck zuliebe, der ihn hergeführt hatte, mußte er „sanfte Gewalt“ gebrauchen. Also faßte er mit beiden Fäusten die Klinke und rüttelte an der Kammerthür, daß die Bretter rasselten. „Mach’ auf! Und ob jetzt willst oder net … anhören mußt mich! In meiner Verpflichtigung steh’ ich da, als ob ich dein armer, guter Vater wär’ … oder als ob d’ ein’ Bruder hätt’st an mir, der sich in Kümmernis um d’ Schwester sorgen thut! Zum letztenmal sag’ ich dir’s: mach’ auf!“

Das wirkte. Noch ehe Pepperl völlig ausgesprochen hatte, öffnete sich die Kammerthüre – freilich nur um einen schmalen Spalt. Und aus diesem Spalt, in welchem undeutlich etwas Weißes schimmerte, kam etwas Schwarzes herausgeflogen, wie eine Nachteule aus ihrem finsteren Felsenschlupf. Dieser sonderbare, aber sehre gewichtige Vogel flog dem Praxmaler-Pepperl grob an die Wange, fuhr ihm wie mit scharfen Klauen übers Ohr und klatschte schwer zu Boden. Im gleichen Augenblick schloß sich die Kammerthüre wieder und der Riegel klirrte.

„Ah, da hört sich aber die G’mütlichkeit auf!“ brummte Pepperl, halb beleidigt und halb verblüfft. In unbewußter Neugier bückte er sich, tappte mit den Händen auf dem Boden herum – und als er den merkwürdigen Vogel haschte, zeigte es sich, daß er keine Flügel hatte, sondern sich anfühlte wie ein Pantoffel mit genagelter Sohle. Bei dieser Entdeckung schoß dem Praxmaler-Pepperl eine „gache Hitz’“ bis unter die Kreuzerschneckerln hinauf, wie überschürtes Feuer in den Schornstein fährt. „So also? So dankst mir du?“ Seine Stimme klang, als wäre ihm die Kehle zugeschnürt. „Meintwegen halt …“ dabei schleuderte er den Pantoffel gegen die Kammerthür, daß es krachte wie ein Schuß, „so renn’ halt ins Verderben, wie ’s dumme Hehndl in’ Fuchsenbau! Ich sag’ dir nix mehr!“

Tief atmend griff er nach seiner Büchse und stürmte zur Hüttenthür hinaus. Da vernahm er Schritte – und um nicht gesehen zu werden, duckte er sich hinter den Holzstoß, der an der Hüttenmauer aufgeschichtet war.

Im fahlen Grau des Morgens schritt Mazegger an der Hütte vorüber, die Büchse auf dem Rücken, das bleiche Gesicht tief vorgebeugt und zu Boden starrend wie einer, der etwas sucht, was sich nimmer finden läßt.

Trotz allen Aufruhrs, den Pepperl in seiner getäuschten und bekümmerten Hirtenseele toben fühlte, hatte er doch noch Augen für das schwer Gedrückte, das aus Mazeggers Haltung sprach. „O heiliger Mar’ und Josef! Mir scheint, der spinnt schon wieder … der arme Narr!“ Seufzend und den fremden Kummer nicht minder schwer als die eigene Sorge fühlend, blickte er dem Jäger nach, bis Mazegger zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann schlich er um den Holzstoß herum bis zur Ecke der Hüttenmauer, warf einen spähenden Blick zum Fürstenhaus hinauf und eilte mit langen Sprüngen dem nahen Walde zu.


4.

Förster Kluibenschädl machte am Morgen keine Birsche, nur einen kleinen Waldmarsch gegen Leutasch hinaus, um sich für das Frühstück im Fürstenhaus den schuldigen Appetit zu holen.

Im Hochwald, der das Weidefeld der Hämmermoosalpe umschließt, traf er mit Mazegger zusammen, der gebeugten Kopfes und in Gedanken versunken seines Weges daherkam.

„He! Toni!“

Der Jäger fuhr auf wie ein Träumer, welcher unsanft geweckt wird.

Mißmutig schüttelte der Förster den Kopf. „Ja Toni! Wie schaust denn aus? Ja bist denn du auch noch ein Jager? Wie kannst denn so umeinanderlaufen? Schamst dich denn gar net?“

Mazegger, über dessen bleiches Gesicht eine Spur von Röte huschte, schien nicht recht zu wissen, wie ihm geschah. Er betrachtete seine Büchse – aber die war spiegelblank, ohne ein Flecklein Rost. Er blickte suchend an seinen Kleidern hinunter – aber die waren tadellos sauber.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0044.jpg&oldid=- (Version vom 3.1.2023)