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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

hatte eine wahrhaft unglückselige Leidenschaft für „schöne Bücheln“, dazu eine leicht zu rührende Seele, und obwohl er in der Praxis des Lebens dem schönen Geschlechte nicht sonderlich freund war, bevorzugte er doch in der Kunst gerade jene „Bücheln“, die von Liebe handelten, von recht viel Liebe und von treuer Liebe! Und die aufregende Geschichte, die er just verschlang, heizte seinem in Spannung zitternden Herzen so erschrecklich ein, daß ihm diese innerliche, atembeklemmende Glut den Schweiß in schimmernden Perlen auf die Stirne trieb.

Die heißgespannte Erregung des Lesers war aber auch begründet. Man denke nur: in dem dreibändigen „frei nach dem Englischen bearbeiteten“ Roman „Das Geheimnis von Woodcastle“ hielt er soeben bei der hochwichtigen Scene, in welcher „Lord Fitzgerald“, der enterbte, von Unglück und Feinden verfolgte Held, die heimliche Botschaft seiner Geliebten empfängt und in mitternächtiger Stunde sich aufmacht zur heißersehnten und entscheidenden Unterredung mit „Lady Maud“, der holdseligen, von Haß und Eifersucht bewachten Herrin von Woodcastle. Die Nacht ist rabenschwarz, eine Eule wimmert um die zerfallenen Zinnen, unheimlich murmelt der Fluß, und geheimnisvoll flüstern die alten „Rüstern“ des Parkes. Wohl ahnt der Lord die Gefahr, die ihn umlauert; doch keine Macht der Welt kann ihn zurückhalten, in die Arme der Geliebten zu eilen, und so schreitet er furchtlos durch die finstere Nacht dahin, nur begleitet von seinem treuen Neufundländer, der gleich dem Schatten eines Löwen an seiner Seite wandelt. Rosige Träume von Glück und Liebe erfüllen die große, stolze Seele „unseres Helden“, und so ganz versunken ist er in die Gedanken an seine holde „Maud“, daß er die zischelnde Stimme überhört, die sich plötzlich im schwarzen Schatten der alten Mauer hören läßt: „Das ist er!“ Doch „Lion“, der treue zottige Freund, hat blitzschnell die Gefahr erkannt, die seinem Herrn droht; seine Haare sträuben sich, er stößt ein drohendes Knurren aus, aber im gleichen Augenblick –

„Mar’ und Josef!“ stotterte Kluibenschädl, dessen Augen sich in gruseliger Spannung erweiterten. „Jetzt g’schieht ihm was!“ Wütend schlug er die Faust auf den Tisch. „Aber gleich hab ich mir’s denkt … und grad heut’ muß er sein’ Revolver daheimlassen … so ein verliebts Kalbl, so ein unvorsichtigs!“ Schnaubend vor Erregung legte er sich mit beiden Ellbogen über den Tisch und beugte die glühende Nase auf das Heft nieder, denn es flimmerte ihm vor den Augen, daß er kaum zu lesen vermochte.

– Im gleichen Augenblick stürzen vier vermummte Gestalten aus der Mauernische hervor. Wohl springt der treue Hund dem ersten der Banditen heulend an die Kehle, doch ein wohlgezielter Dolchstoß streckt das mächtige Tier zu Boden.

„Ah, da hört sich aber doch alles auf!“ Dem Förster traten vor Erbarmen um das schöne Tier dicke Thränen in die Augen.

Dann starrte er eine Weile tiefergriffen vor sich nieder. Schluckend erhob er sich, wischte mit dem Aermel zuerst die Thränen aus den Augen, dann den Schweiß von der Stirne, und nun brach’s mit heiligem Zorn aus ihm heraus: „Die Raubersbuben, die gottverfluchten! Und so ein treu’s unschuldigs Tierl!“ Er packte mit grober Faust das Heft. „Den Schmarren lies ich nimmer weiter!“ Wütend schleuderte er das „Geheimnis von Woodcastle“ in die Tischschublade, dann erhob er sich vom Tisch und ging auf die zweischläfrige Bettstatt zu, um seine Ruhe zu suchen.

Und da war er nun auch so weit schon Herr seiner Sinne, um den fidelen Spektakel nicht mehr zu überhören, der von der Sennhütte heraufklang. Er sah nach der Uhr. „Halb Zwölfe schon! Das geht aber doch ein bißl über d’ Schnur! Ich merk’ schon, da muß ich Polizeistund’ machen!“ Er nahm seinen Hut und ging zur Almhütte hinunter, aus deren Thür ein matt beleuchteter Qualm hervordrang, als wäre in der Sennstube Feuer ausgebrochen.

Der große von einem flackernden Talglicht und dem halb schon erlöschenden Herdfeuer beleuchtete Stubenraum war so dick vom Qualm der Pfeifen erfüllt, daß Kluibenschädl, als er auf die Schwelle trat, die Gestalten der Sennerin und der vier Jäger, die um den mit Flaschen und Gläsern bestellten Tisch saßen, kaum zu unterscheiden vermochte.

Als ihn die fidele Kneipgesellschaft erkannte, wurde er mit lautem Halloh begrüßt. Die junge Sennerin, die vom Weine auch ihr Teil bekommen hatte, empfing den unerwarteten Gast mit einem trillernden Juhschrei im höchsten Diskant, und Pepperl, mit dem gefüllten Schoppenglas in der Hand, sprang auf, daß der dreibeinige Stuhl einen Purzelbaum machte. „Jeh, der Herr Förstner!“ jubelte er und schwang das Glas, wobei er sein Gesicht und die zerzausten „Kreuzerschneckerln“ mit einem ausgiebigen Spritzer taufte. „Was sagen S’, Herr Förstner! Heut’ geht’s lustig zu! Kreuzlustig und schnackerlfidel! Sie! Und ein Weinderl is das! Ein Weinderl! Uüüh! Da, trinken S’ nur glei! Der Herr Förstner soll leben! Hoooch!“

Burgi und die drei anderen Jäger fielen lachend ein, so daß der Förster, der mit beiden Armen zur Ruhe winkte, den fröhlichen Spektakel mit seiner Stimme kaum übertönen konnte.

„Stad, sag ich! Stad! Seids denn schon ganz verruckt! Hat denn noch keiner auf d’ Uhr g’schaut, was? Droben im Fürstenhaus sind lang schon d’ Lichter ausg’löscht, und ihr machts in der Nacht um halb Zwölfe noch eine Metten wie ein Träupl Rekruten! An unsern guten Herrn Fürsten denkt wohl gar keiner nimmer, was? Daß er sterbenskrank g’wesen is! Daß er Ruh’ braucht und ein bißl schlafen muß! Oes seids Lackeln übereinander! Meiner Seel’ … gegen enk wenn man gut is, da hat man den richtigen Dank davon!“ Bei diesem Schlußwort knöpfte er energisch seine Joppe zu und drehte der verblüfften Gesellschaft den Rücken.

In der Sennstube war es mäuschenstill geworden. Burgi schlich zur Kammerthür und fuhr sich verlegen mit der Schürze über das glühende Gesicht. Die drei Jäger saßen wie Klötze, und Pepperl stand so erschrocken, als hätte man ihm unversehens einen Kübel eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Und da man bei solchem Stimmungswechsel, wenn man sein Gewissen nicht völlig rein weiß, die erste Schuld immer gern auf einen anderen schiebt, fuhr er mit heiserem Geflüster einen der Jäger an: „No also, da hast es jetzt! Mit deiner Streiterei!“

„Ah, da schau her!“ brummte Birmoser, der Jäger von Leutasch, in seinem tiefsten Baß. „Du selber hast ja noch viel ärger g’schrien als wie ich!“

Pepperl kam aus der Fassung. „Natürlich, wenn ich dir dein’ Spektakel verbieten muß … das geht doch net, ohne daß ich auch ein paar Wörtln sag …“ Er stockte und schien zu fühlen, daß seine Ausrede auf krummen Füßen ging. Er fuhr sich mit dem Aermel über die heiße Stirn, warf in tiefer Zerknirschung einen Trauerblick auf die beiden noch ungeleerten Flaschen und stotterte: „Thuts mir die zwei Flaschen zustöpseln! Jetzt trink’ ich kein Tröpfl nimmer!“

Dieser ehrlichen Reue gegenüber hielt Kluibenschädls Aerger nicht länger stand. Obwohl im Ernste niemand den Versuch machte, Pepperls Aufforderung zu befolgen, sagte er begütigend: „No no no no! Gar so übers Knie muß man auch net gleich alles abbrechen! Bleibts halt meintwegen in aller Ruh noch ein halbs Stündl bei einander sitzen, bis der Wein schön langsam aus’trunken is … und damit’s g’schwinder geht, hilf ich halt ein bißl mit, in Gottsnamen!“ Er füllte sich ein Schoppenglas bis zum Rand und leerte es auf einen Zug. „Sooooo!“ Als er das Glas niederstellte, gewahrte er, daß nur vier Jäger am Tische saßen.

„Wo is denn der ander’,“ fragte er verwundert, „der Mazegger-Toni?“

„Fort is er,“ antwortete Beinößl, der Jäger von Ehrwald, „schon gleich am Nachmittag is er fort, wie der Herr Fürst ’kommen is!“

„Was? Heut’? Und fort? Daß der aber allweil was Extrigs haben muß! Und jetzt bei der Nacht? Daß er weiß Gott wo umeinander strawanzt, das möcht’ ich mir ausbitten! Da muß ich gleich ein bißl nachschauen.“ Kluibenschädl ging zur Thüre. Auf der Schwelle brummte er über die Schulter zurück: „Also! Fein Ruh halten! Gut’ Nacht! Und um Zwölfe is Polizeistund!“

„Ja ja! Gut’ Nacht, Herr Förstner,“ erwiderten die Jäger. Nur Pepperl schwieg. Er hatte seinen Stuhl wieder aufgerichtet, saß mit gespreizten Beinen und machte ein Gesicht, als ginge ihm ein trüber Wirbel im Kopf herum. Die Sennerin kam aus der Kammer geschlichen und brach, als sie die so trübselig verwandelte Gesellschaft sah, in fröhliches Kichern aus, das sie mit der Schürze zu ersticken suchte. „Ui jegerl! Der hat enk aber derwischt bei die lustigen Haar’! Und du?“ Sie puffte den Praxmaler-Pepperl in den Rücken. „Was is denn mit dir? Was hast denn?“

„G’nug hab’ ich, scheint mir!“ gestand Pepperl in ehrlicher Selbsterkenntnis.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0038.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)