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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

so verschiedenen Interessen, aber mit ungeteilter Freude betrachtet er die prächtigen Charakterfiguren, welche Meister Defregger hier wieder so glücklich zum Bilde vereinigt hat. Bn.     


Anna Ritter. (Mit dem Bildnis der Dichterin.) Vor einigen Jahren hat Anna Ritter ihre ersten Gedichte in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Der Klang dieser Lieder war so eigenartig und bezaubernd, daß man schon nach diesen Proben deren Schöpferin ein hohes dichterisches Talent zuerkennen mußte. Was das Frauenherz bewegt, Liebesglück und Liebesleid, das spiegelte sich in den Gedichten wieder mit einer solchen Frische und Ursprünglichkeit, daß die Kritik für die Dichterin nur Worte des Lobes und der Ermutigung finden konnte.

Nunmehr sind die Gedichte Anna Ritters gesammelt in einem schmucken Bändchen bei A. G. Liebeskind in Stuttgart innerhalb weniger Monate in zweiter Auflage erschienen und bilden in der That eine der herrlichsten Gaben, mit welchen die deutsche lyrische Dichtung im Laufe der letzten Jahre bereichert wurde. Was in ihnen geboten wird, ist weder schüchterne Mädchenpoesie, noch sind es naive Reime einer Volksdichterin, deren Gesichtskreis engere Grenzen gezogen sind. Anna Ritter hat die weite Welt kennengelernt, hat in ihrem Leben höchstes Frauenglück und herbstes Weh empfunden; sie weiß von heißem Sehnen zu singen und von schweren Herzenskämpfen des Entsagens, und eine Meisterin der Form, findet sie für die Stimmungen, die ihre Seele so mächtig bewegten, stets den schönen künstlerischen Ausdruck. Wir sind in der angenehmen Lage, zwei neue Gedichte der schnell berühmt gewordenen Dichterin (vgl. Seite 20 dieses Halbheftes) unseren Lesern zu bieten, und werden demnächst auch Beiträge in Prosa von ihr zum Abdruck bringen.

(Anna Ritter.)

Anna Ritter wurde im Jahre 1865 zu Koburg geboren. Ihre Kinder- und erste Jugendzeit verlebte sie in Kassel, wo ihr Vater ein idyllisches Besitztum hatte. Dort empfing sie die ersten poetischen Anregungen, denn in dem elterlichen Hause war die schöne Litteratur heimisch und zu den Freunden, die in ihm verkehrten, zählte unter anderen auch [[Rudolf Genée]]. Frühzeitig heiratete sie den Mann ihrer Herzenswahl und zog mit ihm, der zuletzt Regierungsrat war, nach Berlin, Köln, Münster und dann nach dem ihr lieb gebliebenen Kassel. Ihr Vater war inzwischen gestorben, und an der Stätte des sonnigen Jugendglücks sollte sie das bitterste Leid erfahren. Im Jahre 1893 wurde ihr der geliebte Mann nach kaum neunjähriger Ehe durch einen frühzeitigen Tod entrissen. In der Trauer um diesen Verlust entstanden die herrlichen Witwenlieder, die zu dem Schönsten zählen, was über Frauenliebe und -leben gesungen wurde. Anfangs nervenleidend, zog sich Anna Ritter nach dem stillen Frankenhausen am Kyffhäuser zurück, um dort zu genesen und ihre drei Kinder zu erziehen. Von frischer Schaffenslust beseelt, sucht sie zeitweilig Berlin auf, um in der Reichshauptstadt neue Anregungen zu schöpfen.

Der Steuermann. (Zu dem Bilde S. 21.) Der markige Mann am Steuer ist noch einer von jener alten Art von Seeleuten, die in Wind und Wetter groß geworden sind, sich wohl auskennen auf einem Segelschiff, sei’s ein Dreimast-Schoner oder auch ein viermastiges Vollschiff, die aber nichts wissen mögen von den Dampfern mit ihren unheimlichen riesigen Maschinen. Trotz dieser Abneigung gegen das „Neue“ ist er ein tüchtiger Fahrersmann, denn er hat von seinen vierzig Lebensjahren fünfundzwanzig auf dem Salzwasser verlebt und so manches Schiff in die ferne Welt hinaus und glücklich in den heimatlichen Hafen zurückgesteuert. Nun hat er wieder die Reise mit dem stolzen Dreimaster zu fast drei Vierteln hinter sich. Noch aber sind der „Kanal“ und die tückische Nordsee zu durchsegeln. Da heißt es gut aufpassen, damit nicht noch in „letzter Stunde“ etwa bei dickem Wetter die tüchtige schlanke „Venus“ gar vielleicht „’en Buren in de Fenster loopen deiht“, auf den flachen Küstensäumen festgerät, gerade herausgesagt: strandet! Na, dafür steht ja der Steuermann am Ruder; der hat schärfere Augen als die Möwen und ist pflichtgetreu wie der beste Soldat. Außerdem wird er aber mit geheimen Fäden nach Land gezogen, dorthin, wo am Deich ein sauberes Häuschen auf seine Heimkehr wartet. Nur wenige Tage noch – dann ist’s erreicht!

Junges Glück. (Zu dem Bilde S. 25.) Uralt und ewig neu, wie Frühling und Liebe, ist die erste Elternseligkeit. Was der Mann auch vorher erstrebt und erreicht, welche Abenteuer er in wechselnden Lebenslagen rasch erjagt und genossen haben mag – nichts von alledem reicht an das Glück seines jetzigen Besitzes, an die Empfindung für die holde reine Mutter seines Erstgeborenen. Wie er so im blühenden Garten sich über sie beugt und beide das kleine blonde Köpfchen voll Zärtlichkeit mit den Blicken umfassen, da schweigt jeder andere Erdenwunsch in ihren Herzen und sie fühlen in stiller Seligkeit, daß sie jetzt des höchsten Menschenglückes teilhaftig geworden sind. Bn.     

Das Sakramentshäuschen in der St. Lorenzkirche zu Nürnberg. (Zu dem Bilde S. 28 und 29.) Die jüngere der beiden Nürnberger Hauptkirchen, die Lorenzkirche, hat den außerordentlichen Vorzug, daß sie noch nie restauriert wurde und daher ein treffliches, sehr malerisches Bild eines reich ausgestatteten mittelalterlichen Gotteshauses bietet. Zu den hervorragendsten Werken altdeutscher Kunst aus Nürnbergs großer Blütezeit, welche die Lorenzkirche birgt, ist vor allem Meister Adam Kraffts weitberühmtes Sakramentshäuschen zu rechnen, das an einer Säule des hohen Chores angelehnt ist und bis zu einer Höhe von etwa 64 Fuß emporragt. Es ist das größte, reichste und phantasievollste der Gehäuse mit turmartigem Aufbaue, welche im 15. Jahrhundert zur Aufbewahrung der Hostie errichtet wurden.

Der reiche Kaufherr Hans Imhoff d. Ae., Pfleger der Pfarrkirche von St. Lorenz, schloß am 25. April 1493 mit „Meister Adam Krafft Bildhauer“ einen Vertrag, wonach sich dieser verpflichtete, „ein schön wolgemacht künstlich und werklich Sakramentshaus von Steinwerk“ nach seinem eigenen Entwurfe zu machen. In drei Jahren hatte der wackere Meister sein großartiges Werk vollendet, für welches ihm außer den vereinbarten 700 Gulden noch 70 Gulden als Ehrengeld ausbezahlt wurden. Das wunderbare Werk wird von den knieenden Figuren des Meisters und der beiden Gesellen, die ihm hauptsächlich dabei geholfen, getragen. Ueber ihnen befindet sich eine Galerie mit prächtiger Brüstung und dem Tabernakel. Dasselbe wird durch eine großartige, wie Filigran wirkende Spitze von durchbrochener Arbeit gekrönt, in welcher mit Bezug auf die Bestimmung des Kunstwerkes die ganze Leidensgeschichte des Herrn in vornehmem Ernste dargestellt ist. Die Leichtigkeit und Zierlichkeit, mit welcher dieses liebliche harmonische Werk in großer Kühnheit himmelan strebt und am Gewölbe angekommen sich leicht abwärts senkt, als ob es bedaure, das Gewölbe nicht durchsprengen zu können, machen es erklärlich, daß das Volk glaubte, Meister Adam Krafft besitze das Geheimnis, die Steine weich und wieder hart zu machen. Paul Ritter hat dieses Kleinod deutscher Bildnerkunst zum Mittelpunkt seines außerordentlich anziehenden Bildes gemacht. Es stellt den Chor der Lorenzkirche dar, in welchem soeben der Sprößling einer Patrizierfamilie getauft werden soll. Ritter hat es trefflich verstanden, die höchst malerische Erscheinung des Chores wiederzugeben. Während an den Pfeiler im Mittelpunkte sich das Sakramentshäuschen lehnt, sind andere weit hinauf mit den Totenschilden Nürnberger Geschlechter geschmückt; unten aber stehen kunstvoll geschnitzte, reich bemalte und vergoldete Altäre, auf welche aus den farbensprühenden glasgemalten Fenstern unterhalb der reizenden Chorgalerie gar seltsame Lichter fallen. Hoch oben von der Decke herab aber hängt der köstliche Rosenkranz von Veit Stoß mit der Verkündigung in der Mitte, dieses Meisterwerk deutscher Holzschnitzkunst, das ein würdiges Seitenstück zu dem großartigen Kunstwerk des deutschen Steinmetzen Adam Krafft bildet. Möge das Innere der Lorenzkirche noch recht viele Jahre unverändert in seiner ursprünglichen malerischen Schönheit erhalten bleiben; sie allein schon ist den Besuch der altehrwürdigen Reichsstadt wert. H. B.     

Zu unseren farbigen Bildern. Frisch aus dem Leben sind die drei farbigen Bilder herausgegriffen, die wir in diesem Halbheft unseren Lesern und Leserinnen bieten. – Wo zwei hübsche junge Freundinnen im verschwiegenen Mädchenstübchen bei einander sitzen, da ist es nicht weit zu vertraulichen Mitteilungen über das bekannte große Thema. Die beiden Freundinnen auf unserer Kunstbeilage „Besuch der Freundin“ sind bereits bei der Lektüre eines jüngst erhaltenen Briefes angelangt, welcher der übrigen Mitwelt in einem sorglich verschlossenen Kästchen vorenthalten wird. So kurz er ist – sein Inhalt scheint geeignet, große Heiterkeit hervorzurufen: sie glänzt voll auf dem Gesicht der hübschen Blondine und spiegelt sich im Lächeln der lesenden Freundin. Hoffentlich war die Absicht des Schreibers auf einen solchen Heiterkeitserfolg gerichtet. Wenn er ihn unfreiwillig erzielte, dann wäre er doch wirklich zu bedauern! – Das lebensvolle Bild „Der Stolz der Familie“ (S. 8) versetzt uns in ein Schloßgemach. Das junge Schloßfräulein, das schon seit seiner Geburt den Stolz der Familie bildet, hat seine Gespielinnen um sich versammelt. Da fiel es der Mutter wiederum auf, wie herrlich im Vergleich zu den anderen ihr Töchterchen entwickelt ist, wenn man selbstverständlich das Alter in Betracht zieht. Und damit der Beweis geliefert wird, daß das Mutterauge nicht parteiisch geurteilt hat, wird sofort eine Messung der Größe an der Wand veranlaßt. Die braven Gespielinnen stimmen der Ansicht der Schloßfrau rückhaltlos bei, und ihr offener, freudiger Gesichtsausdruck während dieses Vergleichs, bei dem sie vielleicht zu kurz wegkommen, erweckt in dem Beschauer Sympathien für Goldelschen. Wer sich so treue Freundinnen erwirbt, hat gewiß ein gutes Herz und braves Gemüt. – Nach dem Leben hat der Maler die Vorlage zu dem stimmungsvollen Bilde „Ihr Lieblingsblatt“ (S. 1) entworfen. Wir wollen hoffen, daß der anmutigen Leserin ihr Lieblingsblatt auch im Laufe des neuen Jahres ebenso gefallen werde wie während des verflossenen Sommers in dem herrlichen Feriensitz an den malerischen Ufern des stillen Alpensees.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0036.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2023)