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Abbe d’ Estrades, und schlug ihm den Verkauf von Casale vor. Mattioli ging darauf ein. Es wurde ein Preis von hunderttausend Thalern ausgemacht und Ludwig XIV schrieb eigenhändig am 12. Januar 1678 an Mattioli einen Dankesbrief. Im folgenden Winter kam dieser nach Paris, und am 8. December wurde der Vertrag in Versailles unterzeichnet. Mattioli erhielt einen Diamantring und hundert Doppellouis zum Geschenk. Zwei Monate später erfuhr man jedoch, daß Mattioli selbst das Geheimnis um Geld an die Höfe von Wien, Madrid und Turin und die Republik von Venedig verraten hatte und daß deswegen der französische Gesandte Baron d’ Asfeld, der mit Mattioli die Ratifikationen austauschen sollte, in Mailand verhaftet und den Spaniern ausgeliefert worden war. So entging den Franzosen Casale und stand der König von Frankreich obendrein beschämt den übrigen Höfen gegenüber. Um aber noch zu retten, was zu retten war, und allen weiteren Indiskretionen die Spitze abzubrechen, lockte der Abbe d’ Estrades den Grafen Mattioli, der noch nicht wußte, daß er durchschaut war, nach Turin und entführte ihn von dort mit Hilfe des Generals Catinat nach Pinerolo. Es scheint, daß sowohl der Herzog von Savoyen als der von Mantua mit diesem Handstreich einverstanden waren. Es war aber dennoch eine Verletzung des Völkerrechts, denn Mattioli hätte in Mantua zu gerichtlicher Verantwortung gezogen werden sollen. Ludwig XIV maßte sich also widerrechtlich die Rolle des Richters an und verurteilte Mattioli mit noch stärkerer Rechtsverletzung ohne Prozeß zu lebenslänglicher Haft, die er zuerst in Pinerolo und dann bis zu seinem Tode am 19. November 1703 in der Bastille zubrachte.

An der Legende von der Eisernen Maske ist schon der Name falsch. Mattioli trug keine eiserne Maske, die er nie hätte abziehen dürfen, sondern, wie mehrere andere Gefangene der Bastille, eine Maske aus schwarzem Sammet, wenn er mit den übrigen Gefangenen oder mit Fremden zusammenkam. Nach und nach wurde jedoch das Geheimnis weniger ängstlich gehütet und in den letzten Jahren Mattioli oft mit andern Gefangenen in die gleiche Zelle gelegt. Als er starb, wurde auf dem Register der Kirche Saint-Paul der Name Marchialy oder Marchioly (die Schrift ist sehr nachlässig und inkorrekt) eingetragen, der sich mit Matthioli näher berührt als mit irgend einem andern der von den Forschern in Betracht gezogenen Namen.

Das ist die wahre Geschichte der Eisernen Maske. Wie entstand nun die Legende? Im Jahre 1745 erschien zuerst in einer anonymen Hofchronik, in der die Skandale von Versailles nach Persien versetzt wurden, die Vermutung, daß der geheimnisvolle Gefangene der Graf von Vermandois, der Sohn Ludwigs XIV und der Louise de la Valliere, gewesen sei. Da derselbe aber urkundlich am 18. November 1683 in Courtrai gestorben ist, so kann er unmöglich bis 1703 unter der schwarzen Maske in der Bastille gelebt haben. Voltaire hatte damals schon zweimal auf kurze Zeit in der Bastille gesessen, vom Mai 1717 bis zum April 1718 wegen eines ebenso beleidigenden als unflätigen Gedichts auf den Regenten und seine Tochter, und im April 1726 zwölf Tage lang, weil er sich an einem Chevalier de Rohan-Chabot, der ihn auf der Straße hatte durchprügeln lassen, in ähnlicher Weise rächen wollte. Er griff den Gedanken auf, daß der maskierte Gefangene von königlichem Geblüte gewesen sei, und machte aus ihm einen Sohn Mazarins und der Königin Anna, einen älteren Stiefbruder Ludwigs XIV. Er beschrieb auch zuerst genau die eiserne Maske, deren unterer Teil nach ihm verschiebbar war, damit der Gefangene sie sogar beim Essen tragen konnte. Er beschrieb sie so gut, daß man in unserem Jahrhundert diese Maske unter einem Haufen alten Eisens in Langres wirklich fand. Eine herzbrechende Inschrift bezeugte ihre Echtheit für fühlsame Herzen und ihre Unechtheit für jeden Vernünftigen.

Unter dem Kaiserreich wurde die Legende dahin umgewandelt, daß die Eiserne Maske der legitime älteste Sohn Ludwigs XIII war, den Mazarin durch seinen eigenen Sohn verdrängt habe. Auf der Insel Sainte-Marguerite habe sich der Gefangene mit der Tochter eines Wärters vermählt und einen Sohn erzeugt, der nach Korsika gebracht wurde und den Namen Buonaparte erhielt. So wurde sogar für die strengsten Legitimisten bewiesen, daß nicht Ludwig XVIII, sondern Napoleon der rechtmäßige Herrscher Frankreichs sei. Noch heute giebt es überdies einen Privatgelehrten Namens Loquin, der in zwei Büchern behauptet hat, Moliere sei nicht im Jahre 1673 nach einer Vorstellung des „Malade imaginaire“ gestorben, sondern auf Betreiben der Jesuiten wegen des „Tartuffe“ in die Bastille gesperrt und als Eiserne oder Sammetne Maske im Jahre 1703 begraben worden.

Noch mehr als das beängstigende Rätsel der Eisernen Maske haben die Memoiren von Latude im achtzehnten Jahrhundert die Bastille mit Schrecken und Grauen umgeben. Der vierundzwanzigjährige Chirurg Jean Henry Aubrespy, der Sohn einer armen Nähterin von Montagnac in Languedoc, hatte in Paris seine bei der Armee gemachten Ersparnisse verpraßt und verfiel nun auf den Gedanken, den Lebensretter der Marquise de Pompadour zu spielen, um eine königliche Belohnung zu erhalten. Zu diesem Zwecke schickte er durch die Post ein kleines, scheinbar explodierbares, in Wahrheit ganz ungefährliches Paket an die Geliebte des Königs, kam aber dessen Ankunft in Versailles in eigener Person zuvor und denunzierte dort zwei unbekannte Attentäter, die er in Paris auf der Straße belauscht haben wollte, wie sie die Absendung ihrer Höllenmaschine beschlossen. Die Geschichte klang so verdächtig, daß sich die Polizei zuerst des Denunzianten bemächtigte und in seiner Wohnung eine Haussuchung anstellte. Diese ergab sehr klar, daß Aubrespy, der sich damals Jean Danry nannte und sich erst später in der Gefangenschaft den Titel eines Vicomte de la Tude beilegte, gleichzeitig Attentäter und Denunziant war.

Trotz dieser Aufklärung zeigte sich die Pompadour, die eben damals den Minister Maurepas hatte in Ungnade fallen lassen und seine Rache fürchtete, sehr beunruhigt. Sie argwöhnte hinter dem Bubenstreich des jungen Feldschers irgend ein Komplott ihrer vornehmen Gegner, und deshalb wurde das einfache Vergehen von der Polizei als hochpolitisches Geheimnis behandelt und Danry wie ein Verbrecher von Rang und Stand am 1. Mai 1749 in die Bastille gebracht. Er selbst leistete diesem Irrtum durch lügenhafte und widerspruchsvolle Aussagen Vorschub, und so kam es, daß sich sein Prozeß ungebührlich in die Länge zog.

Am 28. Juli wurde Danry nach der Festung von Vincennes in der Nähe von Paris übergeführt, die ebenfalls ein Gefängnis für die feine Welt war. Am 15. Juni des folgenden Jahres entwich er von dort auf die einfachste Art. Beim Spaziergang im eingeschlossenen Garten sah er, wie ein großer Hund durch bloßes Anstoßen eine Thüre öffnete, die sonst fest verschlossen war. Durch sie gelangte er ins Freie und floh nach Paris.

Die Freiheit dauerte jedoch nicht lange. Von allen Mitteln entblößt, schrieb Danry an den Leibarzt der Pompadour, den später als Nationalökonom berühmt gewordenen Dr. Quesnay, der ihm einiges Interesse gezeigt hatte. Die Polizei fing den Brief auf und entdeckte so das Versteck des Flüchtlings, der alsbald in die Bastille zurückgebracht und zur Strafe in eines der Kellerverließe gesperrt wurde.

Lange dauerte diese Strafe übrigens nicht. Danry erhielt bald darauf eine gemeinsame Zelle mit dem Marseiller Mathematiker Allègre, der in der Bastille saß, weil er ebenfalls durch die Denunziation eines falschen Komplotts die Pompadour beunruhigt hatte. Danry und Allègre reizten sich gegenseitig auf, da sie beide heftigen Charakters waren, und galten alsbald bei ihrem Wärter für halb oder ganz verrückt. Danry schrieb abwechselnd unterwürfige und beleidigende Briefe an die Pompadour, und als man ihm Tinte und Papier entzog, malte er mit seinem Blut Buchstaben auf Leinwandstücke. Er fand diese Beschäftigung so interessant, daß er sie noch fortsetzte, als man ihm sein Schreibzeug wiedergegeben hatte. In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1756 entflohen endlich Danry und Allègre, indem sie durch das Kamin auf die Plattform stiegen und sich von dort an einer Strickleiter hinunterließen, die sie mit großer Kunst aus ihren Bettdecken gefertigt hatten und die noch heute im städtischen Museum Carnavalet zu Paris zu sehen ist. Allègre, der später wirklich ganz verrückt wurde, gelangte nur bis Brüssel, weil er die Thorheit beging, von dort seine mächtige Feindin brieflich zu beschimpfen. Danry wurde am 1. Juni in Amsterdam entdeckt und als Ausreißer vom Bürgermeister ohne Bedenken der französischen Polizei ausgeliefert.

Diesmal mußte er drei Jahre im Verließ der Bastille zubringen; aber die haarsträubende Beschreibung, die er in seinen durch und durch lügenhaften Memoiren davon macht, ist stark übertrieben, wie zahlreiche Aktenstücke des Archivs der Bastille,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0032.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)