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Durch diese hohen Auszeichnungen des Ortes und des Zeitpunktes hat die Bastille in den Augen der Welt erst recht die Bedeutung einer finsteren Burg grausamer Tyrannenwillkür und ihre Einnahme die einer großartigen und mutigen volksbefreienden That erlangt. Sie wird noch immer als der erste Schritt zur Revolution begrüßt, welche zuerst Frankreich und mittelbar auch andere Länder Europas vom Willkürregiment des Absolutismus befreite. Diese Auffassung ist jedoch nur insofern richtig, als die Zerstörung der Bastille durch das Pariser Volk aller Welt die Ohnmacht des französischen Königtums offenbarte und dessen Sturz, der erst drei Jahre später erfolgte, wirksam vorbereitete. Es ist auch zuzugeben, daß die Bastille ein besonderes Wahrzeichen der unumschränkten Herrschergewalt war, weil hier vorzugsweise solche Gefangene untergebracht wurden, die ohne gerichtliches Verfahren auf eine lettre de cachet, d. h. einen bloßen Brief mit dem königlichen Siegel hin ihrer Freiheit beraubt wurden. Alles übrige dagegen ist Uebertreibung oder freie Erfindung, gegen die alle neueren Historiker Stellung genommen haben. Die Schleifung der unnötig gewordenen Bastille war vom König und seinen Ministern schon seit fünf Jahren beschlossen, als das Volk sie niederriß. Sie enthielt damals bloß noch sieben Gefangene, von denen sechs nach jetzigem Recht viel strenger bestraft worden wären als damals. Der Pöbel, gegen dessen Ausschreitungen die wahren Bürger alsbald eine Bürgerwehr bilden mußten, war sich auch anfangs gar keiner befreienden That bewußt, als er nach der Bastille zog, sondern wollte dort nur Waffen holen, um seine Plünderungen in der Stadt und der Umgegend fortzusetzen. Die Festung wurde ferner nicht mit Todesmut erstürmt, sondern von der ausgehungerten Besatzung unter der Bedingung freien Abzugs übergeben. Trotzdem wurden der Gouverneur und ein Teil der Garnison niedergemacht.

Statt den Beginn der Revolution von der Einnahme der Bastille zu datieren, rückt man ihn besser um drei Wochen weiter und setzt ihn auf die Nacht des 4. August an, wo die Nationalversammlung in feierlicher Sitzung alle Privilegien der Geburt und des Standes aufhob. Dieser großartige Beschluß wäre auch ohne die Einnahme der Bastille gefaßt worden, so gut war er durch Montesquieu, Voltaire, Rousseau und die Encyklopädisten vorbereitet. Neben ihm kann jene Gewaltthat höchstens die Bedeutung einer symbolischen Handlung beanspruchen.

Richtig ist freilich, daß die Bastille schon lange vor 1789 allen Pariser Bürgern ein Dorn im Auge war, viel mehr als die übrigen Gefängnisse der Stadt, wo die Gefangenen zahlreicher waren und viel schlechter behandelt wurden. Der Grund davon war die Heimlichthuerei, die zu den grausigsten Legenden Anlaß gegeben und diesen eine ungeheure Zahl gläubiger Abnehmer verschafft hatte, und diese Heimlichthuerei war eine notwendige Folge des von Richelieu begründeten, von Ludwig XIV auf die Spitze getriebenen und von seinen Nachfolgern nur wenig gemilderten Regierungssystems der königlichen Allgewalt. Es ist nicht schwer, dies an der Geschichte der zwei berühmtesten Gefangenen der Bastille nachzuweisen, durch welche sie zumeist zu ihrem üblen Rufe gekommen ist, an der Geschichte der Eisernen Maske und an der von Latude, für die wir hier nach den neuesten Untersuchungen[1] Wahrheit und Legende nebeneinander stellen wollen.

Was war die Bastille ursprünglich? Nichts anderes als eine Befestigung des Thores von Saint-Antoine, die zur Zeit gebaut wurde, da die Engländer das Land unsicher machten.

Damals nannte man jede derartige Thorbefestigung Bastide oder Bastille. Es war auch nicht König Karl V, der am 22. April 1370 ihren Grundstein legte, sondern der Bürgermeister von Paris oder, wie man damals sagte, der prévôt des marchands Hugues Aubriot. Schon früh wurden, wie in jeder Festung, gelegentlich Gefangene in der Bastille untergebracht, aber zwei Jahrhunderte lang blieb sie nicht nur Festung, sondern war sogar oft der Schauplatz königlicher Feste und Lustbarkeiten, so namentlich unter Ludwig XI und Franz I. Noch unter Heinrich II wurde die Befestigung durch die Anlage einer Bastei verstärkt, die später den Gefangenen als Promenade diente. Unter Richelieu trat der Wechsel ein. Vor ihm waren die vornehmsten Herren des Hofes Gouverneure des „königlichen Schlosses der Bastille“, wie der offizielle Titel lautete, gewesen. Er ernannte dazu den Bruder seines Faktotums, des Paters Joseph, einen gewissen Leclerc du Tremblay, der nichts als ein finsterer Gefängniswärter war.

Aber auch von da an bis auf ihr Ende unter Ludwig XVI war die Bastille kein Gefängnis für jedermann, sie öffnete sich bloß für Leute von Stand oder Rang. Sie war ein vornehmes Gefängnis, wo die Leute mit Rücksicht, ja oft mit Auszeichnung behandelt wurden, wenn sie sich nicht durch schlechte Aufführung die zeitweise und nie lange dauernde Versetzung in die Kellerverließe zuzogen. Die Zeugnisse sind haufenweise vorhanden, wonach die Bastille ein ebenso „fideles Gefängnis“ war wie das in der Operette „Die Fledermaus“. Da verlangte z. B. einmal eine Dame, die an einem Komplott zur Entthronung des unmündigen Ludwig XV teilgenommen hatte, ein weißes Kleid mit grünen Blumen. Die Frau des Gouverneurs suchte alle Kramladen von Paris ab, um den nötigen Stoff zu finden. Er war nirgends zu haben, und so entschloß sie sich zu einem weißen Stoff mit grünen Streifen. Der Bericht, der darüber erhalten ist, schließt mit der Hoffnung, daß die verwöhnte Hochverräterin, der man nebenbei auch eine Liebeskorrespondenz mit einem Mitgefangenen gestattete, mit diesem Kleide zufrieden sein werde. Ungefähr ein Jahr vor der Zerstörung mußten zwölf bretonische Edelleute, die dem König eine Bittschrift mit Reformvorschlägen überbracht hatten, dafür zwei Monate in der Bastille zubringen. Um ihnen die Zeit zu verkürzen, wurde vom Gouverneur ein Billard angeschafft. Einem Edelmann, der mit seinem Bedienten in die Bastille einzog, was bei vornehmen Herren die Regel war, wurde am ersten Tag ein Mittagsessen in die Zelle gebracht, das ihm vortrefflich schmeckte. Es war gesunde und sehr reichliche kräftige Kost. Als er damit zu Ende war, brachte man ein zweites Mittagsessen, das aus den erlesensten Leckerbissen bestand. Jetzt bemerkte er seinen Irrtum: er hatte die Mahlzeit seines Bedienten eingenommen, und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als die vornehmeren Tafelgenüsse diesem zu überlassen. Unter Ludwig XVI erhielt der Gouverneur täglich hundertfünfzig Livres (nach jetzigem Geldwert mindestens dreihundert Mark) für den Unterhalt von fünfzehn Gefangenen, eine Zahl, die zu dieser Zeit fast nie erreicht wurde. Es wurde ihm also geradezu zur Pflicht gemacht, die Opfer der Tyrannenwillkür fürstlich zu verpflegen. Freilich hatte das Wohlleben in dem Gefängnis seine schlimmen Seiten. Der allzu reichlichen Nahrung bei geringer Bewegung oder Arbeit ist vielleicht die große Zahl von Wahnsinnsanfällen in der Bastille zuzuschreiben.

Doch kommen wir endlich zur Eisernen Maske, die zu so viel Schauerromanen und gewagten historischen Hypothesen Anlaß gegeben hat! Das Geheimnis darf jetzt als gelöst betrachtet werden, nachdem die boshafte, jeder sicheren Grundlage entbehrende Vermutung Voltaires, die Alexandre Dumas im „Vicomte de Bragelonne“ mit seiner ebenso fruchtbaren als oberflächlichen Phantasie in die weitesten Kreise getragen hat, endgültig überwunden worden ist. Schon im Jahre 1770 war die Wahrheit von dem in Pfalzburg lebenden elsässer Baron von Heiß entdeckt und im „Journal Encyclopédique“ mitgeteilt worden; aber der bescheidene Gelehrte konnte nicht aufkommen gegen den berühmten Patriarchen von Ferney, der dreimal ansetzte und immer bestimmter den Mann mit der eisernen Maske als einen Stiefbruder Ludwigs XIV bezeichnete.

Die Wahrheit ist weniger romantisch, aber historisch um so interessanter, weil sie für die zugleich gewaltsame und heimtückische auswärtige Politik des „Sonnenkönigs“ charakteristisch ist. Im Jahre 1632 war die feste Stadt Pinerolo (Pignerol) in Piemont in französischen Besitz gelangt. Das machte Ludwig XIV und seine Minister lüstern, noch mehr Erwerbungen in Oberitalien zu machen und das Haus Savoyen zu verdrängen. Sie warfen ihre Augen auf Casale, das dem liederlichen und tiefverschuldeten Herzog von Mantua gehörte. Im Besitz von Pinerolo und Casale hätten sie Turin wie mit einer Zange packen können. In Mantua war im Jahre 1674 nächst dem Herzog der damals 37jährige Graf Ercole Antonio Mattioli (in Frankreich meist Matthioli geschrieben) die wichtigste Persönlichkeit im Staate. An ihn machte sich nun der intrigante französische Gesandte in Venedig, der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0031.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)
  1. Sie sind vortrefflich zusammengestellt worden von F. Funck - Brentano in seinen „Légendes et Archives de la Bastille“ (Paris, librairie Hachette 1898).