Seite:Die Gartenlaube (1899) 0002.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Fahrt in den von Sonnenglanz umwobenen Hochwald einlenkte, klang vom Dorfe her noch ein letzter Glockenton, als möchte das im Thal versinkende Treiben der Menschen Abschied von dem jungen Reisenden nehmen, der in Gedanken versunken hinauf in die Berge fuhr.

Die steigende Straße verlor sich in immer dichteren Wald. Der klomm zur Rechten gegen die Hochalmen empor, zur Linken senkte er sich in eine Schlucht, aus deren Tiefe sich die Stimme des Wildbaches noch wie leises Murmeln vernehmen ließ. Unter den Bäumen war Stille, als wollte der Wald nach der drückenden Hitze des Julitages schon lange vor Abend in Schlummer sinken. Man hörte nur den müden Hufschlag und das Räderknirschen im groben Kies der Straße.

Vor die schwerfällige Landkutsche waren zwei Maultiere gespannt. Sie gingen den ihnen wohlbekannten Weg mit gleichmäßigem Schritt und machten dem alten, weißbärtigen Bauernknecht, der sie zu lenken hatte, nur geringe Mühe. Er konnte die Zügel lässig im Schoße halten und ab und zu ein kleines Nickerchen erledigen, aus dem ihn das Holpern des eine Wasserrinne passierenden Wagens immer wieder aufrüttelte. Wurde er munter, so versuchte er mit seinem Nachbar auf dem Bocksitz ein Gespräch anzuknüpfen, verstummte aber bald wieder, eingeschüchtert durch das vornehm ablehnende „Ach?“ und „So!“, das er sich mit all seiner gutmütigen Redseligkeit als einzige Antwort verdiente. Man sah diesem Nachbar den „hochherrschaftlichen Lakai“ an der würdevollen Haltung an, die er trotz der siebenstündigen Wagenfahrt noch immer bewahrte. Er trug einen Reiseanzug aus dunklem Cheviot, adrett wie nach dem Modejournal geschnitten, und ein kleines schwarzes Hütchen, unter dessen schmaler Krempe sich das peinlich frisierte Blondhaar gleich einer polierten Bernsteinschale um den Hinterkopf und über die Schläfen legte. Ein noch junges Gesicht, und hübsch, so daß es hätte gefallen können. Aber in seiner rasierten Glätte und bei dem Bestreben, stets einen wichtig ernsten Ausdruck in den Blick der graublauen, im Grunde doch recht gedankenlosen Augen zu legen, glich es dem stilvollen Antlitz eines mittelmäßig begabten Schauspielers, der seine beste Rolle außerhalb der Bühne spielt. Es lag auch, neben halber Ehrlichkeit, ein wenig Komödianterie in der Art und Weise, wie sich der Diener nach dem Fond der Kutsche umwandte, als wäre er in Sorge um das Befinden seines jungen Herrn.

„Fühlen sich Durchlaucht von der Fahrt nicht sehr ermüdet?“

Der Fürst schien nicht zu hören – wenigstens gab er keine Antwort. Regungslos, wie schlafend, und den Kopf mit dem grauen, schmucklosen Jägerhütchen ein wenig seitwärts geneigt, lag er in die Lederkissen der Kutsche geschmiegt und ließ die Hände auf der leichten Reisedecke ruhen, die um seine Kniee geschlungen war – zwei schlanke, frauenhaft gepflegte Hände, deren durchscheinende Blässe von schwerer, kaum noch überstandener Krankheit erzählte. So bleich wie diese Hände war auch das schmale, feingeschnittene Gesicht, von dessen Blässe sich das dünne Bärtchen, das die herb geschlossenen Lippen umrahmte, und der linde Flaum, der sich um Kinn und Wangen kräuselte, als tiefer Schatten abhoben. Wie der seltsame Widerspruch dieser Züge fesselte! Jede Linie so weich und milde gezeichnet, als wären diese Züge das Erbteil einer schönen Mutter, das einer Tochter geschenkt sein wollte und sich zu einem Sohn verirrte; und dennoch der Ausdruck eines klar geprägten Willens, in jedem Zug das Merkmal einer fest gefügten männlichen Natur; dazu ein Körper, schlank und sehnig aufgeschossen, dessen jugendliche Kraft durch die überstandene Krankheit nicht gebrochen, nur gefesselt schien und sich auch in der müd’ versunkenen Haltung noch verriet, mit welcher der Fürst im Wagen ruhte.

Er hielt die Augen geschlossen; doch schlief er nicht – das Leben, das in seinen Zügen spielte, verriet es. Hatte er die Lider geschlossen, weil ihn nach all dem blendenden Sonnenglanz der langen Fahrt die Augen schmerzten? Oder wollte er das Bild der Landschaft vor seinem Blick erlöschen machen, um die Bilder seiner Gedanken ungestört und klar vor seiner Seele zu schauen? Freundliche Bilder schienen das nicht zu sein! Das bittere Lächeln, das einen tiefen Zug um die Lippen schnitt, erzählte von Leiden, welche besiegt, doch nicht vergessen sind und in der Seele nachwirken wie das Brennen einer Wunde, die vernarben will.

Bei diesem Sinnen und Brüten atmete der stille, freudlose Träumer in tiefen Zügen die reine Waldluft, ihre Frische wie unbewußte Erquickung genießend.

Da unterbrach ein heller Laut die Stille der Landschaft. Ueber die Wipfel hin, von einer fernen Höhe klingend, tönte der schwebende Jodelruf einer Mädchenstimme, verschwamm in den sonnigen Lüften und weckte an den Felswänden, die der Wald verhüllte, noch ein leises Echo.

Der Fürst hörte nicht. Aber der Lakai auf dem Bocksitz spitzte die Ohren, lächelte ein wenig und fragte halblaut den Kutscher: „Giebt es hier Sennerinnen?“

„No freilich! Viere oder fünfe müssen herinn sein im Gaisthal. Und eine is dabei … vor der muß man ’s Hütl ziehen. Die Burgi von der Tillfußer Alm … was wahr is, muß wahr sein … aber das is schon ein bildsaubers Madl.“

„Die Tillfußer Alm? Wo liegt die?“

„Gleich dem Jagdhaus vor der Nasen, auf hundert Schritt!“

Der Wagen rollte aus dem dicht geschlossenen Wald auf eine offene Höhe hinaus, und der Kutscher deutete mit der Peitsche. „Da schauen S’ her! da kann man ’s ganze Gaisthal überschauen, drei Stund weit naus bis gegen Ehrwald.“

Hastig wandte sich der Lakai und sprach in den Wagen zurück: „Bitte, Durchlaucht, von dieser Stelle kann man das ganze Jagdgebiet übersehen.“

Der Fürst schlug die Augen auf – große, dunkle Augen von schwimmendem Glanz – und erhob sich im Wagen, den der Kutscher auf einen Wink des Lakaien angehalten hatte.

Beim Anblick dieser weitgedehnten, in all ihrer wundersamen Größe doch so ruhigen Landschaft stieg eine warme Röte in die bleichen Wangen des Fürsten. Es war aber auch ein Bild, das einem für Schönheit der Natur empfänglichen Menschen die Seele mit Staunen erfüllen mußte.

Zu Füßen der Straße zog sich ein schmales Hochthal mit fast ebener Sohle bis in weite Ferne, kaum merklich gewunden, eine einzige große Linie, gezeichnet von der weitausholenden Hand des Schöpfers. Durch das lange Thal hin schlängelt sich die Gaisthaler Ache, in enggedrängtem Bette aus- und einbiegend um vorspringende Felsen und Waldecken, bald grünlich schimmernd bei ruhigem Gefäll, bald wieder blitzend in der Sonne und zersprudelt zu weißem Schaum. Das ganze Thal entlang reiht sich zur Linken ein Felskoloß an den anderen; neben der ungestüm aufstrebenden „Munde“ erhebt sich die wuchtige „Hochwand“, hinter dem klobigen „Igelstein“ drängt sich der steile „Tejakopf“ hervor, und den wirkungsvollen Abschluß bildet die „Sonnenspitze“ mit ihrer schlanken, auf breitem Sockel ruhenden Pyramide. Von dunklem Blau umschleierte Kare schneiden in den Leib der steinernen Riesen ein, und über die steil gesenkten Felsenrippen klettern die Fichtenwälder empor als schmale Zungen und verlieren sich mit einsam vorgeschobenen Bäumen zwischen die Latschenfelder, welche die Brust der Berge umhängen wie grüne Sammetverbrämung. Verstaubter Schnee, den immerwährender Schatten auch gegen die Sonne des Juli schützte, füllt mit zerrissenen Formen alle tieferen Buchten im Gestein, und von ihm aus ziehen, den lebenden Wald zersprengend, die Lawinengassen nieder mit verwüstetem Gehäng. Gerade der Stelle zu Füßen, auf welcher der Wagen hielt, lagen Hunderte von gebrochenen Stämmen wirr über den Bach geschleudert – doch in der Tiefe sah dieser zerstörte Wald sich an wie Spielzeug, das Kinderhände im Uebermut durcheinander geworfen. Aus diesem Wirrsal ragte eine seltsame Rute hervor: eine gewaltige, wohl hundertjährige Fichte, die eine Lawine aus dem Grund gerissen, durch die Luft gewirbelt und mit dem Gipfel wieder in die Erde gebohrt hatte, so daß der Stamm mit seinem Wurzelwerk zum Himmel ragte.

Gegenüber diesem ernsten Bild des Schattens lag, von goldnem Schimmer umwoben, die Sonnenseite des Thales. Ueppig grünende Wälder wechselten mit blumigen Almgehängen. Sanft verschwommen klangen die Glocken der weidenden Rinder von den Höhen nieder, und auf den lichtgrünen Weideflächen erkannte man die zerstreuten Tiere der Herde als helle, bewegliche Punkte. Ueber den Almen lagen wieder die Wälder, aus denen sacht gerundete, nur selten von einer kahlen Wand durchschnittene Kuppen aufwärtsstiegen; und wie die Welt verschließend, so stolz und steil, erhob sich über diese grünen Wellen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0002.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2024)