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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

die Frau mit dem Regenmantel. Auch diese schien ihn wieder zu erkennen, sie kniff die Lippen zusammen und verfärbte sich.

„Ich bedauere, mein Herr, die Wohnung ist bereits vermietet,“ sagte sie.

„Aber Frau –!“ begann der Beamte ganz verdutzt. Ein schlecht verborgener Rippenstoß brachte ihn zum Schweigen.

„Entschuldigen Sie,“ erwiderte Franz Hertel höflich, indem er aus dem Häuschen heraustrat, „ich kam auch eigentlich nicht – das heißt nicht bloß der Wohnung wegen. Die Damen, die hier bisher wohnten –“

„Die Damen sind gestern abend mit der Bahn abgereist, wie Sie wohl schon wissen. – Adieu, mein Herr!“ Die hagere Frau machte so etwas wie einen Knix, faßte ihren Gatten am Arm und schloß das Hauspförtchen hinter sich mit einer Behendigkeit, als hätte sie das der bisherigen Bewohnerin abgelernt.

„Hm,“ brummte Franz Hertel, „das wird ja heiter. Jetzt will ich aber wissen, wer und wo sie ist und was das alles bedeutet, und wenn ich sämtliche Honoratioren von Grünau aushorchen müßte. Also zuerst zum Stadtphysikus. Der kennt sich ja in jedem Hause der Stadt aus.“


6.

Der Herr Stadtphysikus war leider nicht zu Hause; aber während Franz Hertel noch mit dem Dienstmädchen verhandelte, trat die rundliche Hausfrau aus der sogenannten guten Stube und bemächtigte sich seiner. „Wollen Sie nicht ein wenig näher treten, Herr Doktor? Sie finden noch andern lieben Besuch drinnen.“

Der „andere liebe Besuch“ waren die Frau Amtsgerichtsrat und Fräulein Helene, sie waren von einem Einkaufsgang „nur auf einen Augenblick“ hereingesprungen, um mit der Hausfrau und deren beiden Töchtern einige dringende Neuigkeiten auszutauschen. Die drei jüngeren Damen begrüßten den Dichter mit gewinnender Freundlichkeit; die Frau Amtsgerichtsrat musterte mit einem gewissen Schrecken seine feierliche Gesellschaftstracht: „Sollte er am Ende um eine von den beiden da anhalten wollen?“ dachte sie; „diese jungen Männer von heutzutage sind ja so dumm, die lassen sich von jeder Gans fangen.“ Da aber Franz Hertel mit diplomatischer Fassung versicherte, er habe eigentlich nur den Herrn Sanitätsrat wegen einer medizinischen Stelle in seinem neuesten Roman konsultieren wollen, wurde sie wieder heiter. „Ja, ja, die Herren Dichter müssen doch allerlei wissen,“ meinte sie. „Mich wundert nur, mein lieber Herr Doktor, wo Sie immerzu die Stoffe hernehmen.“ „O, die lassen wir uns von den andern Leuten liefern,“ erwiderte Franz Hertel. Die Mädchen kicherten, und Fräulein Babette, die ältere der beiden Haustöchter, sagte: „Ach ja, wir sprachen eben von einer Geschichte, die gäbe gewiß auch einen Stoff für Sie.“ „Erzählen Sie dem Herrn Doktor doch die Geschichte, liebe Helene,“ bat die Hausfrau; „meine Mädchen können so etwas doch nicht so frei erzählen, sie sind gar zu schüchtern bei solchen verfänglichen Dingen.“ „Warum soll ich die Geschichte nicht erzählen, Tante Sanitätsrat?“ parierte Fräulein Helene; „die falsche Schüchternheit kann man sich ja für spätere Jahre aufsparen. Also denken Sie sich, Herr Doktor, was da einer Verwandten von unserer Waschfrau begegnet ist. Sie wohnt in dem Brezelgäßchen – das kennen Sie wohl gar nicht? Es wohnen lauter gewöhnliche Leute dort; und ihr gegenüber, in einem kleinen Häuschen –“

„Es ist nämlich ein großer Bleichhof da, mit zwei kleinen Häuschen am Thor,“ warf eine der Haustöchter ein.

„Nun ja,“ fuhr Fräulein Helene fort. „Also in einem von den Häuschen hatte sich eine fremde kranke Dame –“

„Dame?“ fragten die beiden Haustöchter ironisch.

„Warum nicht?“ versetzte Fränlein Helene mit einem Seitenblick. „Heutzutage verlangt man ja nicht mehr, daß das, was sich so nennt, sich auch so benimmt. Also die hatte sich da mit ihrer Tochter, oder was es sonst war, eingemietet. Und die läßt sich jeden Abend einen Strauß bringen, erst ein paar Tage lang von einem jungen Herrn, und dann von einem zerlumpten Straßenjungen. Wie das aber so eine Zeit lang gedauert hatte, da entdeckt die Nachbarin – wissen Sie, die Base von unserer Waschfrau – daß die Sträuße noch immer von dem jungen Herrn kamen; der Straßenjunge war nur der Zwischenträger ––“

„– postillon d’amour,“ kicherten die Haustöchter.

„Aber Kinder!“ bemerkte ihre Mutter verweisend.

„– die Frau hat gesehen, wie ihm der Herr an einer Straßenecke die Sträuße gab, ein paar Abende nacheinander. Das hat sie denn der Wirtin gesteckt, und da haben die Fremden natürlich gleich ausziehen müssen.“

„Ja, aber das Beste“ – warf die Frau Amtsgerichtsrat ein.

„Ja, das kommt noch,“ fuhr Fräulein Helene etwas ungeduldig fort. „Das ist ja die eigentliche romantische Lösung, Nämlich als unsere Waschfrau gestern die Geschichte erzählte, kam sie uns erst ganz unerklärlich vor. Sträuße bringen ist doch nichts so Gefährliches, dazu braucht man doch keinen Zwischenträger und so was. Da fiel mir ein, daß neulich im ,General-Anzeiger‘ etwas über Blumensprache gestanden hat. Zufällig hatte ich das Blatt noch bei der Hand, und richtig, da steht ein ganzes Kapitel: ‚Verabreden von Zeit und Ort durch bestimmte Blumen.‘ Sehen Sie, das war es. Die Sträuße waren weiter nichts als Einladungen zum Rendezvous. Wie romantisch, nicht wahr?“

„Daß Sie das aber auch gleich so richtig gemerkt haben, liebe Helene,“ bemerkte die Hausfrau. „Ich glaube, Kinder, ihr könntet euch in so etwas gar nicht recht hineindenken.“

„Unsere Helene ist eben immer ein kluges Kind gewesen,“ versetzte die Frau Amtsgerichtsrat. „Und denken Sie sich, Herr Doktor, wie die Sache zutraf! Meine Tochter hatte der Waschfrau kaum die ersten Zeilen vorgelesen, wo es heißt: ,Drei Kamelien und eine Tuberose – bedeutet: um zehn Uhr abends am Brunnen‘, da schreit die Frau ordentlich auf und sagt: ,Das stimmt! Um zehn Uhr ist er noch neulich durch die Straße gekommen, und sie ging vor ihm her, in einen dunklen Regenmantel ganz vermummt, das hat meine Base deutlich gesehen.‘ Und das wird denn wohl stimmen, denn wenn man durch das Brezelgäßchen geht und oben links abbiegt, dann kommt man durch das Lungengäßchen auf den Eselsmarkt, wissen Sie, wo die neuen Anlagen sind, mit dem Laufbrunnen in der Mitte. Es ist auch eine schöne Ruhebank daneben.“

„Nun, Mama, für gewöhnlich werden sie es sich doch bequemer gemacht haben,“ meinte Fräulein Helene. „Sie wohnte ja dicht an dem alten Kirchhof, auf den Bleichen da ist es abends ja sehr menschenleer, und er konnte ja über die Mauer steigen. Die Frau hat ihn oft des Nachts da herumstreichen sehen. Es heißt ja auch in dem Zeitungsaufsatz: ,Drei Nelken und eine Calla – um eilf Uhr auf dem Friedhof.‘“

„Gräßlich,“ seufzte die Hausfrau. „Daß man so etwas drucken darf. Da sollte doch die Regierung einschreiten. Das muß doch jugendliche Gemüter verderben.“

„Nun, wissen Sie, Liebe,“ erwiderte die Frau Amtsgerichtsrat, „wenn eine sich mal mit so etwas abgiebt, an der ist nicht mehr viel zu verderben. Es ist nur gut, daß es keine Hiesige war.“

„Was sagen Sie denn nun zu der Geschichte, Herr Doktor?“ fragte die Hausfrau.

„O,“ antwortete Franz Hertel mit einer unnatürlichen Ruhe, „ich denke, es ist eine Geschichte, wie ihrer viele gemacht werden. Irgend eine Waschfrau oder deren Base, die einen ganz harmlosen Vorfall gesehen hat, setzt den Brei an, andere gießen allerlei Einfälle zu und rühren ihn um, und zuletzt ist das Zeug fertig. Solange man noch keine Namen nennt, bleibt der Sport ziemlich ungefährlich; wenn man aber so unvorsichtig ist, deutlich bezeichnete Personen hineinzuziehen, kann es für diese und für die Verbreiter recht traurige Folgen haben.“

Auf diese Rede folgte eine große, drückende Pause. Fräulein Helenens Antlitz war tief errötet, das ihrer Mutter war ganz erblaßt, und die anderen Damen blickten ziemlich verständnislos drein. Endlich sagte die jüngere Haustochter: „Ja, man soll nie zu viel erzählen.“

Und ihre Schwester fügte hinzu: „Man weiß nie, was daran ist.“ Die Hausfrau unterdrückte eine dritte Bemerkung gleichen Inhalts und brachte das Gespräch auf andere Dinge.

Nach einer Weile erhoben sich die Gäste. Beim Abschied wandte sich Fräulein Helene, die ihre Fassung äußerlich ganz wieder gefunden hatte, mit süßem Lächeln an den Dichter: „Nun, Herr Doktor, Sie erzählten mir ja neulich auf unserer Abendgesellschaft, daß Sie jetzt Ihr erstes größeres Drama schreiben

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