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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

nach der andern, starrte das Sträußchen an, das in einer kleinen Vase neben dem Tintenfaß stand, und verfaßte zahlreiche Gedichte in einer schwermütigen, etwas unklaren Art, die ihm sonst fern lag. Er machte eine kleine Abendgesellschaft im Hause des Amtsgerichtsrats mit, in der selbstquälerischen Absicht, sich gründlich zu langweilen, was ihm aber nur halb gelang. Die joviale Art des Hausherrn und die treffliche Bewirtung, die zu den erfreulichen Seiten der Frau Amtsgerichtsrat gehörte, ließen ihn fast wider Willen jenes Behagen empfinden, das einen „alleinstehenden“ Mann von gutem Geschmack jedesmal überkommt, wenn er auf kurze Zeit in einer wirklichen Häuslichkeit weilen darf. Die anderen Gäste, zumal die jüngere Weiblichkeit, waren freilich sehr unbedeutend, so sehr, daß sich Fräulein Helene von ihnen beinahe glänzend abhob, denn sie besaß von der Mutter her eine gewisse Fähigkeit, schnell zu beobachten und das Beobachtete leicht auszusprechen, und war klug genug, dem jungen Dichter gegenüber diese Fähigkeit zu ihrem Vorteil zu üben, indem sie sich möglichst viel nach seinen eigenen Ansichten und Urteilen richtete, die sie aus seinen Büchern kannte. Auf diesem Wege sind Dichter womöglich noch leichter zu täuschen als andere Männer: Franz Hertel erstaunte verschiedenemal aufrichtig darüber, welche Weite des Geistes sich dieses Mädchen doch inmitten ihrer alltäglichen Umgebung bewahrt habe, er glaubte zu verstehen, wie eingeengt sie sich in ihrem Kreise fühlen müsse, und folgte ihrer etwas überschlanken Gestalt mit Blicken einer nachdenklichen Teilnahme, die von der Mutter gern gesehen und äußerst falsch gedeutet wurden.

Am Tage nach dieser Gesellschaft hatte Franz Hertel sich wieder in den Wald gewagt. Nach einigen Stunden gedankenvollen Umherschlenderns fand er sich unversehens auf einer großen Lichtung wieder, die über und über mit Blumen bedeckt war, wie sie diese Jahreszeit noch bietet. Er erinnerte sich, daß er hier jenes letzte, nicht mehr ans Ziel gelangte Sträußchen gebunden hatte, und ganz wunderlich überlief es ihn, als er merkte, daß er heute zum erstenmal der alten lieben Gewohnheit vergessen und keine Blüte gepflückt habe. Da sah er am Rande der Lichtung etwas Graues kauern und zappeln, und näherschreitend entdeckte er, daß es der sommersprossige Bote war, der ein gewaltiges Bündel armlanger Blütenstengel in der Hand hielt und noch immer neue dazu ausraufte.

„Nanu, Junge,“ rief Franz Hertel, „was machst du denn da? Das soll wohl für eure Ziege sein?“

Der Junge sah ihn etwas ungewiß an und sagte: „Wir haben gar keine Geiß.“

„Wozu raufst du denn alle die Blumen aus?“

Der Junge grinste und schwieg. Da kam dem Dichter eine glückliche Eingebung. „Sieh mal,“ sagte er sanft und holte ein Geldstück hervor, „dieses Zwanzigpfennigstück bekommst du, wenn du mir jetzt hübsch ordentlich sagst, wozu du die Blumen abreißest.“

Auf dem Gesicht des Sommersprossigen spiegelte sich ein großer Seelenkampf. Endlich, nach mehrmaligem Auf- und Zuklappen des Mundes, ließ er die Blumen aus der Hand fallen, griff nach dem Geldstück und brummte: „Für das Fräulein!“

„Für welches Fräulein?“ fragte Franz Hertel hastig, ganz geblendet von dem Lichte einer plötzlichen Ahnung.

„Na, für das schöne Fräulein aus dem Brezelgäßchen,“ erwiderte der Junge. „Sie hat mir ja gesagt, ich soll ihr alle Abend einen Strauß aus dem Wald bringen, für zehn Pfennig. Aber sie passen ihr nie recht; sie will sie immer kleiner haben, und überhaupt ganz anders. Und gestern hat sie mir gesagt, ich könnt’ es jetzt schon besser, aber wenn ich ihr mal so einen recht schönen brächte, dann kriegte ich fünfzehn Pfennig. Und da wollt’ ich mir jetzt zuerst einen ordentlichen Haufen zusammenholen, damit setz’ ich mich dann nachher hinten auf die Bank und such’ mir was aus.“

„– So?“ sagte Franz Hertel nach kurzem Bedenken. „Nun pass’ mal auf, mein Junge, nun will ich dir was sagen, und dann wollen wir sehen, ob du wirklich so ein kluger Junge bist wie du scheinst.“

Auf diese schmeichelhafte Einladung hin ging der Sommersprossige mit seinem neuen Bekannten eine Verhandlung ein, die zu folgendem mündlichen Vertrag führte: Der Junge verpflichtete sich, von weiterer Waldverwüstung abzusehen und den Dichter jeden Abend um halb acht Uhr an einer stillen Ecke zu erwarten. Der Dichter verpflichtete sich, ihm dort jedesmal einen Strauß und zehn Pfennig zu überreichen; der Junge verpflichtete sich, den Strauß als sein eigenes Machwerk dem Fräulein zu überliefern – die zehn Pfennig verblieben ihm zu freier Verfügung. Beide Parteien verpflichteten sich, über die Geschichte zu schweigen.

Nachdem dieser Vertrag geschlossen war, mußte der Junge noch eine gute Stunde warten, bis der Dichter einen Strauß fertig hatte, den er statt seines eigenen Futterbündels dem Fräulein bringen sollte. Es war ein sehr hübscher kleiner Strauß, aber Franz Hertel war doch noch nicht von ihm befriedigt, wenn er ihn auch nicht so geringschätzig betrachtete wie der Junge, der sein Urteil in die Worte zusammenfaßte: „Dafür gäb’ ich keine zwei Pfennig!“

Franz Hertel ließ ihn mit dem verachteten Kunstwerke abziehen. Er selbst blieb noch eine Weile zurück, um über diese neue Wendung seines Abenteuers nachzusinnen. Den Jungen hatte er während seiner gärtnerischen Arbeit nach Kräften ausgehorcht, aber der kannte zwar schon Namen und Wohnung des Dichters, schien dagegen nicht mehr über das Fräulein zu wissen als er, und es widerstrebte Franz Hertel, einen solchen Zwischenträger geradezu auf Kundschaft auszusenden.

Die Verbindung war auch so schon wunderlich genug. Franz Hertel versuchte eifrig, sich einzureden, daß er den ganzen Vertrag nur geschlossen habe, damit das Fräulein – vielmehr ihre Kranke nicht noch länger durch die irrigen Auffassungen des Jungen über die Schönheiten eines Waldblumenstraußes grausam enttäuscht werde. Des weiteren redete er sich sogar ein, daß es ihm ganz gleichgültig sei, weshalb die schöne Namenlose einem solchen zerlumpten Schlingel lieber die Sträuße abkaufe, als sie von ihm umsonst zu nehmen. Nachdem Franz Hertel mit seinem Gewissen darüber einig geworden war, daß ihm die Einfälle und Launen seiner schönen Florentinerin so gleichgültig seien wie alle Frauenlaunen der Welt, und daß sein Abkommen mit dem Sommersprossigen durchaus nichts weiter bedeute als eine etwas romantisch verkleidete Ausübung schuldiger Nächstenliebe, ging er heim, um die ganze Nacht von der holden Unbekannten zu träumen.


4.

Der Vertrag zwischen dem jungen Dichter und dem Knaben wurde nun etwa vierzehn Tage lang und, dank der Beständigkeit des guten Wetters, ohne einen einzigen Tag Pause ausgeführt, wobei sich der Sommersprossige als ein brauchbarer Bote erwies; übrigens schien das Fräulein den Verkehr mit ihm in denselben engen Grenzen zu halten wie zuvor den mit Franz Hertel. Nur das erste Mal hatte sie sich über die außerordentlichen Fortschritte des Jungen in der Straußbindekunst lobend ausgesprochen, was diesen so verwunderte, daß er es seinem Auftraggeber am nächsten Abend grinsend erzählte. Der Dichter belohnte ihn für die Erzählung mit einem Zuschuß von fünf Pfennig, worauf sich beides, Erzählung und Zuschuß, noch ein paarmal wiederholte; da aber Franz Hertel einmal zufällig den Zuschuß vergaß, hörte auch die Erzählung auf, und der Dichter fing an zu zweifeln, ob sie überhaupt jemals wahr gewesen sei. Jedenfalls schien es ihm geraten, die Erfindungsgabe des Jungen nicht noch durch Fragen zu reizen. Er zog es vor, seine früheren spätabendlichen Forschergänge durch das Brezelgäßchen wieder aufzunehmen. Einmal, an einem etwas nebligen Abend zu Anfang des September, glaubte er auch die Empfängerin seiner Sträuße in einer vor ihm herwandelnden schlanken Gestalt in dunklem Regenmantel zu erkennen, unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte und hatte sie am Ausgange der Straße eingeholt. Als sie sich aber dort unter der Laterne umwandte, blickte ihm unter der Kapuze statt des holden Florentinermädchens eine ältliche, spitznasige Frau entgegen, die ihn so feindselig musterte, daß er ganz entsetzt auswich und weitereilte.

Der Nebel war nicht das Einzige in der Natur, woran Franz Hertel den herannahenden Herbst mit Betrübnis wahrnahm. Sein Blumenbestand verringerte sich täglich. Herbstzeitlosen oder Silberdisteln, falbe und rote Blätter mit reifen Beeren sind ja unschwer zu Sträußchen von großer Wirkung zu vereinigen, aber einer Kranken darf man sie doch nicht senden; und wenn man sich in der Hauptsache auf spätblühende Glockenblumen, lilafarbene

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