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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Und da Franz Hertel etwas betreten erst auf die schmale weiße Hand, die sich nach seinem Strauß ausstreckte, und dann wieder in das schöne Gesicht blickte, schlug sie, noch tiefer errötend, die Augen nieder und stammelte kaum hörbar: „Es ist für eine Kranke, die sich über alles nach einem solchen Strauße sehnt … Ich denke, auch Sie lieben die Waldblumen, aber Ihnen ist es leicht, sie zu pflücken …“

„Aber ich bitte, mein Fräulein,“ erwiderte Franz Hertel und reichte ihr das Sträußchen, „es ist mir eine große Freude … zumal zu solchem Zwecke … Aber,“ fügte er treuherzig hinzu, „dann müssen Sie mir schon erlauben, daß ich den kleinen Dienst wiederhole. Ich bin es gewohnt, jeden schönen Nachmittag mir ein solches Andenken vom Walde mitzunehmen … Es ist wohl nur eine Spielerei … aber wenn Sie mir erlauben wollten, sie nützlich zu machen, um einen Menschen damit zu erfreuen …“

Ein prüfender Blick traf sein Antlitz, aus dem in diesem Augenblicke nur die ehrlichste Freude am Gutthun sprach. „Ich danke Ihnen sehr,“ sagte sie einfach. „Wenn Sie die große Güte haben wollten … morgen abend um diese Zeit werde ich wieder hier sein … Nochmals vielen, vielen Dank!“ Dazu neigte sie das Haupt – ein vornehmes, fast stolzes Nicken; und sogleich hatte sich das Pförtchen hinter der Schönen geschlossen.


2.

An jenem Abend suchte der Amtsgerichtsrat den juugen Dichter vergebens im Kasino; aber ein glücklicher Zufall ließ ihn tags darauf gegen acht Uhr dem Ersehnten begegnen, der eben in das Brezelgäßchen einbiegen wollte, mit einem überaus sorgsam zusammengestellten Strauß von Waldblumen in der Hand. Franz Hertel unterbrach die wortreiche Einladung mit einer hastigen Zusage, die dem Amtsgerichtsrat wieder einmal Anlaß gab, den Scharfblick seiner Gattin zu bewundern. „Der junge Mann ist doch wirklich zu schüchtern,“ dachte er im Weitergehen; „wenn er schon so verwirrt wird vor lauter Freude bei der Aussicht, unsere Helene wiederzusehen, warum macht er denn meiner Frau nicht das Vergnügen schon längst?“ „Gott sei Dank, daß er geht,“ dachte Franz Hertel gleichzeitig mit einem Blick auf die Uhr. „Das hätte gerade noch gefehlt, daß mich der alte Knabe hier eine halbe Stunde festhielt, um mir von seiner Tochter vorzuschwärmen. Es ist so schon zu spät geworden.“ Denn er hatte fast bis zum Beginn der Dämmerung im Stadtwalde an seinem Strauße herumgemodelt und fürchtete, darüber die Zeit zur Ablieferung des Kunstwerkes versäumt zu haben. Als er sich aber dem Wärterhäuschen näherte, öffnete sich die kleine Pforte, das schwarzgekleidete Fräulein erschien, erwiderte des Dichters Gruß mit huldvollem Neigen des Hauptes, ergriff den Strauß mit einem bewundernden „Wie herrlich! Ich danke Ihnen recht sehr!“ und wollte sich mit einem stummen Gruße zurückziehen. „Darf ich fragen, wie es – wie es heute geht?“ stammelte Franz Hertel mit einem höchst ungeschickten Winken nach dem Häuschen hin, da ihm keine genaue Bezeichnung des Gegenstandes seiner freundlichen Nachfrage einfiel. Das Fräulein verstand ihn gleichwohl. „O, ich danke … es geht besser!“ erwiderte sie leise – nickte Gute Nacht und war verschwunden.

Am folgenden Abend verkürzte sie die kurze Unterhaltung noch, indem sie ihr tröstliches „Es geht etwas besser!“ sogleich der Begrüßung beifügte, noch ehe er gefragt hatte; und auch am fünften oder sechsten Abend waren ihre Gespräche noch nicht länger geworden. Trotzdem waren diese wenigen Worte, diese abendliche halbe Minute einer fast stummen Begegnung für Franz Hertel bereits der beste Teil des Tages geworden, das, worauf er sich ein ganzes Heute lang freute, um es als Labung für ein ganzes Morgen mitzunehmen. Das Bild dieser ernstfreundlichen lieblichen Mädchenschönheit, die mit ihrer stillen blühenden Anmut viel eher in die Welt der besten alten florentinischen Maler als in das Brezelgäßchen von Grünau paßte, verschwand für ihn nicht hinter dem dunklen, verwitterten Pförtchen: es blieb beständig vor seinem inneren Auge, und von dem blonden Haupte ging ein sanftes stetiges Leuchten aus, das den jungen Dichter seine ganze kleinstädtische Umgebung zeitweilig vergessen ließ. Wenn das Pförtchen sich geschlossen hatte und Franz Hertel sich mit einem tiefen Atemzuge zur Heimkehr wandte, so gewahrte er nichts von den grauhaarigen Weiberköpfen, die hinter den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser mit platt an die Scheiben gedrückten Nasen herunterstarrten und tuschelnd zusammenfuhren; oder wenn er sie doch mit den Augen wahrnahm, so blieben sie für seine verklärte Seele gleichgültige Dinge, dergleichen unsere Sinne allezeit eine Unmenge wahrnehmen, ohne daß wir sie in irgend eine Verbindung mit uns und unseren Gedanken bringen. Am allerletzten aber hätte Franz Hertel diese niederländischen Charakterköpfe in eine Verbindung mit seiner „schönen Florentinerin“ – wie er sie für sich zu nennen pflegte – gebracht. Noch immer wußte er ihren Namen so wenig wie irgend sonst etwas über ihre Verhältnisse. Ein Adreßbuch gab es in Grünau noch nicht, und ein merkwürdiges Gefühl verbot ihm, auf Umwegen sich nach ihr bei seinen Grünauer Bekannten zu erkundigen; das wäre ihm wie eine Art Beleidigung gegen die Schöne erschienen. Es machte ihm schon fast Gewissensbisse, daß er, einem unwiderstehlichen Drange folgend, ein paarmal in später Abendstunde an dem Häuschen vorüberstrich, ohne mehr zu bemerken als dunkle Mauern und verschlossene Holzläden, zwischen denen ein ganz schmaler Lichtstreif durchschimmerte.

Aber so wunderlich sein karger persönlicher Verkehr mit der Holden begonnen hatte, sollte er auch abbrechen. Am siebenten oder achten Abend, als Franz Hertel mit einem Meisterstück der Blumenbinderei ins Brezelgäßchen einbog, vertrat ihm ein ärmlich gekleideter Junge mit kurzborstigen Haaren und sommersprossigem, magerm Gesicht den Weg. „Sind Sie der Herr mit den Blumen für das Fräulein da hinten?“ fragte er, indem er mit einer schubsenden Bewegung der linken Schulter nach dem Wärterhäuschen deutete. Und da Franz Hertel unwirsch verwirrt fragte: „Was willst du denn, Junge?“ fuhr der Sommersprossige fort: „Dann soll ich Ihnen das hier mit einer schönen Empfehlung geben.“ Damit überreichte er dem Dichter ein kleines Briefchen, verschlossen, ohne Aufschrift. Hastig öffnete Franz Hertel den Umschlag, mit einer Spannung, in die sich eine gewisse Enttäuschung mischte; es durchzuckte ihn, wie wenn plötzlich ein sehr irdisches Schlaglicht über das romantische Bild in seiner Seele hinginge. Aber sogleich stand das Bild wieder im alten Scheine, nur schmerzlich weit entrückt, vor ihm, als er im letzten Abenddämmern mühsam die wenigen Worte entziffert hatte, die in zierlich feiner Schrift auf dem kleinen Briefkärtchen standen:
 „Herzlichen Dank und Lebewohl!“
Sonst nichts. Kein Name und gar nichts weiter.

Franz Hertel spähte das Gäßchen hinunter, als wollte er seine Augen zwingen, das Pförtchen sich öffnen und die schlanke Gestalt hervortreten zu sehen, dann wandte er sich nach dem Jungen zurück, der mit den Händen in den Hosentaschen da stand und den Bestürzten, wie diesem schien, mit einer diabolischen Neugier betrachtete.

„Hat dir das Fräulein sonst nichts bestellt?“ fragte Franz Hertel.

„Ich soll Ihnen sagen, sie reiste ab, hat sie gesagt,“ berichtete der Junge.

„So?“ bemerkte Franz Hertel. „Woher kennst du sie denn?“

„Gar nicht. Sie hat mir bloß einen Nickel gegeben und ich sollte Ihnen das da bestellen. – Und sonst hat sie mir gar nichts gesagt,“ fügte der Sommersprossige hastig hinzu und lief davon.

Schließlich blieb Franz Hertel nichts übrig, als seinen Strauß mitsamt dem Briefchen heimzutragen. Es war ihm aber in seinem einsamen Zimmer so öde an diesem Abend, daß er sich am Ende ins Kasino flüchtete. Dort zog ihn der Amtsgerichtsrat, der heute seinen häuslichen Urlaub überschritten hatte, an seinen Tisch und verwickelte ihn in ein politisches Gespräch. Dem alten Herrn that es sehr wohl, einen Zuhörer zu finden, der ihm mit allen Zeichen gespannten Nachdenkens gegenüber saß und ihn nur zuweilen mit einem Worte höflicher Zustimmung unterbrach.

„Weißt du, mein Herz,“ berichtete er daheim der Gattin, „ich hatte eine lange Unterhaltung mit dem Doktor Hertel, und da wollte ich doch nicht so kurz abbrechen. Es scheint wirklich ein ausgezeichneter junger Mann zu sein, er äußert vortreffliche Ansichten.“

„Wenn du ihn nur nicht kopfscheu machst, Albrecht,“ erwiderte die Gattin mit sanfter Strenge. „Mit dem Assessor vor drei Jahren ist es dir auch so gegangen.“


3.

An den nächsten Tagen ging Franz Hertel nicht zum Walde. Er saß viel an seinem einsamen Schreibtisch, rauchte eine Cigarre

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0882.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2023)