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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

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Die Volkstribunen von Hamburg.

Ein Bild aus deutscher Geschichte.
Von Rudolf von Gottschall.

Es war im März 1685 – eine fieberhafte Unruhe hatte sich aller Bewohner der Elbe- und Alsterstadt bemächtigt, ein unerhörter Vorgang die Gemüter aufs tiefste erregt: einer der angesehensten Bürger der Stadt, der Kaufmann Hieronymus Snitger, ein eifriger Vorkämpfer für die Rechte des Volkes, war von lüneburgischen Reitern in Hamm vor den Thoren der Stadt aufgegriffen und fortgeschleppt worden.

Das war ein Hinundherwogen in den Straßen; Meister und Gesellen kamen frisch von der Arbeit, in Haus- und Arbeitskleidern, mit dem Schurzfell, ihre Werkzeuge in der Hand, manche nicht bloß mit Hammer und Schlägel, sondern auch mit Waffen gerüstet. Frauen lugten aus allen Fenstern, rufend und fragend, oder drängten sich in das Getümmel. Galt doch Snitger für den „Vater des Vaterlandes“, und es war, als ob der Stadt Hamburg die tüchtigste Wehr und Waffe entrissen worden wäre.

Vor dem Rathause versammelte sich das Volk. Mochten seine Bilder, Wappen und Statuen, seine gemalten Fenster im Sonnenschein des Vorfrühlings blitzen – die Stimmung des Volkes war trübe, gedrückt, verbittert.

Mit freudigem Zurufe wurde nur ein Mann begrüßt, der mit einem großen Gefolge erregter, lärmender Anhänger auf dem Marktplatze erschien, ein hochgewachsener Mann, hager, düstern Blickes, mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen.

„Da kommt ja Koordt Jastram,“ sagte der Oberalte Möller zu seinem Nachbar, dem greisen Mohrmann, dessen glühendes Gesicht infolge der Aufregung einen Schlagfluß anzudrohen schien und der mit Fragen auf ihn einstürmte, „das ist ja Snitgers bester Freund, und da werden wir leicht erfahren, wie die Sachen stehen.“

Und er wandte sich mit einer Anfrage an Jastram, der im Ausschuß der Bürgerschaft das Amt des Kriegskommissars bekleidete.

Hastig und ungeduldig wie seine Art war, erwiderte Zastram: „In Hamm, dicht bei seinem Besitztum, haben sie Snitger in dem Wagen überfallen, worin er mit seiner jungen Frau saß, den Kutscher vom Bock geworfen, beide mit der Pistole bedroht, wenn sie sich regen und um Hilfe rufen würden. Und dann ging’s wahrscheinlich an die Elbe, um hinüber ins Lüneburgische zu gelangen. Die Schurken – doch wir kennen sie! Der Kutscher, der zur Stadt zurückfloh, hat sie uns beschrieben, Soldatengesindel, aus dem Dienst entlassene Offiziere, Kornetts, Sergeanten – und dahinter steckt der Resident des Kaisers, von Rondeck. Ich gehe aufs Rathaus, um dessen Verhaftung zu beantragen: der abgesetzte und flüchtige Bürgermeister Meurer hat die Hand mit im Spiel. Mir wollen sie ja auch an den Kragen: Snitger und ich – wir gelten für die Urheber aller Bosheit in dieser Stadt, weil wir getreulich die Gerechtsame derselben wahren; doch man muß aufräumen mit den langfingerigen Hansen, die Stunde dazu hat geschlagen.“

„Aber Snitger, unser Snitger,“ rief der Oberalte, und die Bürger, die mit besorgten Mienen umherstanden, stimmten ein, „wird er denn bald wieder freikommen?“

„Das laßt meine Sorge sein – schon sind die reitenden Diener aus dem Steinthor galoppiert, mit ihnen Schweder von Brüllen, Snitgers Neffe. Ein Preis von tausend Thalern ist der Mannschaft ausgesetzt, welche Snitger lebendig wiederbringt. Die Elbübergänge werden bewacht – unsere Musketiere patrouillieren die Elbe entlang. Wir werden den Raubgesellen ihre Beute abjagen – zweifelt nicht!“

Darauf begab sich Jastram in den Ratssaal, um dort im Namen der Dreißiger zu sprechen, eines Ausschusses aus der Bürgerschaft und den Oberalten, dessen Macht in den jetzigen bedrohlichen Zeitläufen dem Rat über den Kopf zu wachsen drohte. Die Ratsherren waren einstimmig in der Verurteilung der schnöden Gewaltthat; mancher hegte Furcht, des stillen Einverständnisses mit den Thätern beschuldigt zu werden, und schrie um so lauter gegen sie. Der Anhang des vertriebenen Bürgermeisters Meurer war noch groß im Rat und daß Snitger niemals nach Hamburg zurückkehren möge, das gehörte zu den frommen Wünschen, die unter dem Beichtsiegel nicht verhehlt worden wären.

„Dahin ist es gekommen,“ rief Jastram, mit der nervigen Faust auf den Ratstisch schlagend, „niemand ist mehr seines Lebens sicher – gedungene Banditen verbergen sich in unsern Mauern und kriechen hervor zu schurkischer That. Warum das alles? Weil der Rat hier zwei Gesichter hat, mit dem einen den Bürgern zulächelt, wenn sie die Freiheit der Stadt vertreten, mit dem andern nach dem Kaiser und dem Lüneburger schielt! Da war der Bürgermeister Meurer doch noch ein ganzer Mann. Festnageln wollt’ er dies Hamburg an Kaiser und Reich; er glaubte an diese Herrlichkeit, die von den Franzosen und Türken in Fetzen zerrissen wird, während die Fürsten sich in selbständigen Bündnissen von dem Reiche loslösen; er glaubte daran, und wenn ein güldenes Gnadenkettlein für ihn abfiel, er hätte sich damit nicht erdrosselt. Doch er wußte, was er wollte – er hat es geduldet, daß des Kaisers Strafmandate an Rathaus und Börse angeschlagen wurden, er hat den Receß mit dem Fürsten Windischgrätz, der sich hier als prunkvoller kaiserlicher Satrap aufspielte, mit all den 71 Punkten durchgesetzt – und die Bürger ließen sich über das Ohr hauen; er hat insgeheim mit den Kaiserlichen sich verschworen – die Briefe sind ja in unsere Hände gefallen! Wir haben ihn abgesetzt, er ist flüchtig geworden und hat seinen Eid gebrochen. Das mag ihm der Himmel anschreiben und wir werden’s thun, wenn wir ihn einmal packen; aber solche Eide bricht man, solange die Welt steht – und kann dabei ein ganzer und großer Mann sein!“

Ein Murren über die Gottlosigkeit des Volksmannes ging durch die Ratsversammlung; doch Jastram fuhr unbeirrt fort: „Ich weiß, Meurers Geist spukt noch bei euch!“

Abermaliges Murren – einige sprangen mit drohenden Gebärden gegen den verwegenen Sprecher auf, doch Jastram sagte mit verächtlicher Handbewegung: „Laßt es gut sein, würdige Herren! Ihr wachst doch nicht, wenn ihr euch auch auf die Zehen stellt! Der Meurer sitzt im Lüneburgischen, daher der ganze Jammer; der Herzog ist entrüstet, weil wir seine Räte bei der letzten Gesandtschaft nicht mit dem nötigen Respekt behandelt haben; er hat unsere Waren mit Beschlag belegt, unsere Briefe erbrechen, unsere durchreisenden Kaufleute verhaften lassen – und jetzt – ein räuberischer Anfall vor den Thoren unserer Stadt! Da gilt es, mit dem eisernen Besen alle fortzufegen, die unsere Gerechtsame kränken. Was Kaiser und Reich – wir sind eine freie Stadt – zum Teufel mit allen Abmachungen und Recessen, die uns die Hände binden! Kein Kaiser soll den Verbrecher schützen, der sich an unsern Bürgern vergreift – auch den Rondeck nicht! Ihr ruft: ‚ein Gesandter‘, ihr schreit: ‚Völkerrecht!‘ Das Recht des Volkes ist heiliger als alles Völkerrecht.“

Doch auch der gemäßigte Bürgermeister Schlüter widersprach:

„Und wenn wir uns auch vor des Kaisers Zorn nicht fürchteten, wir würden verurteilt werden in deutschen Landen von allen, welche das gute Recht kennen und achten. Gesandte sind unantastbar.“

„Nun,“ rief Jastram aufbrausend, „wenn ihr denn glaubt, man könne Politik treiben wie weißgekleidete Mädchen, die nirgends anstoßen wollen vor Furcht, es könne ein böser Fleck hängen bleiben – meinetwegen! Doch dann stellt dem Residenten wenigstens eine Wache vor die Thüre, damit er nicht entkommt. Kann man ihn nicht packen als den Hauptschuldigen: er ist wenigstens der Hauptzeuge – und den dürfen wir nicht freigeben!“

Darüber entspann sich lebhafte Beratung. Die Mehrzahl der Ratsherren war geneigt, dem Vorschlag Jastrams beizutretcn.

Da trat ein Dragonerkapitän säbelklirrend in den Saal und flüsterte dem Bürgermeister etwas ins Ohr.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 856. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0856.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)