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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Neapolitanische Straßenhändler.

Von Woldemar Kaden. Mit Abbildungen von P. Scoppetta.

Neapolitanische Straßenhändler! … Wenn wir sie gleich charakterisieren wollen mit dem ihnen eigensten, mit ihrer Stimme, so sind sie dem homerischen Helden

„Stentorn gleich, dem starken, an Brust und eherner Stimme,
Dessen Ruf laut tönte, wie fünfzig andere Männer.“

Mit zwanzigtausend, mit fünfzigtausend solcher eherner Stimmen zieht es jeden Morgen durch die Thore Neapels, wandelt und hastet durch alle seine Plätze, Straßen und Gassen – alles, was die Triften, die Gärten, die Weinberge, das Meer, die Hühner-, Schaf- und Kuhställe an eß- und trinkbaren Dingen liefern.

Der Verbreitung dieser Waren dienen die Schneckenhändler, Brotkuchenbäcker und Maccaroniköche, die Verkäufer von gesottenem Esels- und Pferdefleisch, von Lungen und Lebern unbekannter Tiere, Schafs- und Rindereingeweiden, die Lupinen- und Olivenhändler, Austräger von Pfefferfrüchten in Essigtunke, von Pinienkernen und gebackenen Kastanien, die Orangen-, Citronen- und Grünwarenverkäufer, Schwefelwasserträger, Lumpensammler, die mit Johannisbrot bezahlen, Fischer, Vertreiber von Garküchenresten, Blumenjungen und -mädchen, Bürsten- und Schwammindustrielle. Körbe, Tücher, Matten, Fässer, Bretter, ungekämmte Köpfe und zerschundene Eselsrücken, wenn’s hoch kommt Karren, dienen der Ware als Unterlage.

Und auf welchem Pflaster spielt sich das ab!

Die armen Straßenkehrer kommen nicht nach. Jeder der ambulanten Straßenhändler hinterläßt seine Spuren. Schreitet man über die immer nassen Steine, so kracht und knackt es von Muschelschalen und leeren Schneckengehäusen, von Kirsch- und Pflaumenkernen, so rutscht der oft strauchelnde Fuß unaufhörlich auf Krautblättern und Gemüsestrünken jeder Art, schlüpft auf Melonen- und Orangenschalen, auf ausgepreßten oder faulenden Citronen. Esel sodann, Ziegen, Schafe und ganze Kuhfamilien, die zur Milchabgabe vor die Thüren geführt werden, glauben natürlich auf solchem Boden sich zu jeder Verunglimpfung des Bürgersteigs berechtigt.

Es lebe die Reinlichkeit, es lebe Deutschland! Ich stand in Frankfurt am Fenster, brach einige welke Blätter von dem Epheu und warf sie auf die Straße hinab. Mit welchem Entsetzen fiel mir der Freund in die Arme! Und hier?

Kot und Kehricht überall, wie im dicksten Orient!

Dazu das dröhnende Tosen der Tausende von Stimmen, das Schlachtgeschrei im Kampfe ums Dasein, im Ringen des Erwerbs, das sich zu gewissen Stunden bis zur Unerträglichkeit steigert und deutschen Ohren so weh thut. Darüber aber der blaue reinliche Frühlings- oder Sommerhimmel, die sanften freundlichen Hügel, wo die Ruhe wohnt. Wie gern steigt man aus der Hölle empor zu Licht und Luft und steht mit Wohlgefühl atmend auf den Balkonen des Klosters S. Martino, hinabblickend auf die graue, in Dampf und Dunst gehüllte Häusermasse. Aber auch hier: wie das Brausen von hundert Eisenbahnzügen, wie ein Toben „derer, die obliegen und unterliegen,“ dringen gewaltige Tonwogen bis zu uns herauf, wie aus einer Stadt im tollen Aufstand, wie ein Riesenwasserfall. Das ist Stimmengebraus, das sind die zu einem riesigen Schall zusammenschwellenden Ausrufe des ambulanten Handels von Neapel, das ist die Musik der Stadt, der eine uralte überlieferte Partitur zu Grunde liegt. Tausende von Orchester-, Solo- und Chorstimmen.

Bei einer Wanderung durch die Gassen haben wir jetzt Gelegenheit, die einzelnen Stimmen und Rollen flüchtig zu überlesen. Wie eine Aufforderung zur Revolte, zum Bürgermord kommt es uns auf der nächsten Straße, dem breiten Corso Vittorio Emanuele, entgegen. Wüstes Geschrei in den höchsten Tonlagen aus einer wirbelnden Rotte von Straßenjungen, dazu eine herausfordernde heißatmige Pickelflötenmelodie auf der Basis einer zornigen Pauke, einer metallisch klirrenden Trommel mit Beckenbegleitung: ein toller Marsch! Und da kommt’s um die Ecke. Ein zerzauster barfüßiger Kerl, als General gekleidet, blauer reichgalonierter Rock mit hohen Aufschlägen, mit Goldpapierorden bedeckt, fettiger federgeschmückter Dreispitz – wie ein Tambourmajor schwingt er seinen langen Marschallstab und wirft ihn in die Luft, herablassend nach allen Seiten grüßend. In Lumpen folgt die von ihm befehligte Musikbande, folgen die hundert Gassenjungen, immer aufgeregter tobend. Da stockt der Zug. Tiefes Schweigen. Und jetzt hält der Bandenführer eine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0849.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)