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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Er wendete den Blick ab und schaute nach unten, auf den Gletscher, dessen frosterstarrte Wogenkämme von drei Seiten die Schutzhütte umbrandeten. Es war ein Bild des Todes, diese weißen, im Mondschein dämmernden Flächen, diese wildgeschwungenen, wie aus stürmischer Bewegung heraus mit einem Zauberschlag zu bläulichem Glas versteinerten Wellenlinien des Eismeeres.

Und doch lebte es auf der zum Thal gesenkten Wüste von Firn und Schnee! Er trat zurück und fuhr mit der Hand über die Augen, wie um die Sinnestäuschung zu verscheuchen. Aber das Bild blieb! Da stand es, ganz dicht unter ihm, oder vielmehr, es bewegte sich – drei Gestalten, die durch ein pendelndes Seil verbunden, langsam und schweigsam in der Nacht emporstiegen.

Ein hagerer, knochiger Riese mit fuchsrotem Schnurrbart vorne, ein glattrasierter, lächelnder Zwerg hinten. Und zwischen ihnen eine mit weißen Schneeschleiern über und über verhüllte, gesenkten Hauptes in die Fußstapfen ihres Vorgängers tretende Erscheinung. Es sah aus, als hätten die beiden, der Riese und der Zwerg, auf einem gemeinsamen Raubzug irgend ein seltenes Gletschergespenst gefangen und schleppten es im Triumph mit sich fort.

Näher und näher kamen sie heran. Der oben stand gebannt und unbeweglich. Er hörte das Knirschen der Eispickel, das Schlürfen der Schuhe, wie die drei rastlos und stumm zu ihm heraufstiegen, als habe sie der über den Gletscherspalten brütende Eisdunst zu Nachtgebilden geformt. Jetzt klang schon ihr schweres Atemholen durch die stille Luft, es scharrte auf dem schneefreien Steingeröll an der Hütte und reckte und dehnte sich gähnend im Mondschein.

„Natürlich schläft schon alles,“ brummte der Riese, ohne die im Dunkel der Veranda stehende Gestalt des Afrikaners zu bemerken. „Kommen Sie, Franklin! Wir wollen drinnen Lärm schlagen und sehen, wie es mit dem Nachtquartier steht. Sie warten inzwischen besser draußen noch ein Weilchen, Frau Angela. Es ist stockdunkel in dem Gletscherstall!“

Er stieß mit seiner mächtigen Faust die Thür auf und tappte hinein. Der Kleine auf den Fußspitzen hinterher.

Die beiden anderen Gestalten blieben zurück. Die dunkle im Schatten, die weiße im bläulichen Mondschein. Die Gletscherschleier, mit denen die Alpinistinnen den Teint vor Sonnenbrand und Nachtfrost bewahren, umwallten sie in geisterhaften Falten. Darunter schimmerte ganz undeutlich ein menschliches Antlitz. Oder vielmehr das einer Statue, einer Leiche. Kalkfarben und starr. Er wußte, daß das nichts anderes als die zum Schutze der Gesichtshaut aufgetragene Creme war, die ihre Züge versteinerte. Und doch beschlich ihn, gerade weil er das Antlitz nur unbestimmt, in matten Umrissen, mehr ahnen als sehen konnte, ein unheimliches Gefühl.

Da trat sie plötzlich auf ihn zu. Sie hatte ihn erkannt und streckte ihm stumm die Hand hin. Er nahm sie. Sie ruhte, von den Tuchhüllen befreit, heiß in der seinen.

Eine Weile schwiegen beide. Womit beginnen in dieser geheimnisvollen, vom Rauschen der Gletscherwasser, dem Tuscheln des Windes durchflüsterten Mondnacht der Höhen?

Da ging die Thüre wieder auf. „Fertig,“ rief Franklin heraus. „Wo sind Sie, Frau Angela? Wir haben die Köchin geweckt. Sie kocht uns Kaffee, ehe wir nach Sibirien, ich meine, in unsere nahezu vereisten Betten kriechen. Der Prinz sitzt schon drinnen und schlingt pfundweise Cornedbeef direkt aus der Blechbüchse in sich hinein. Verbieten Sie ihm das! Er ist wirklich ein unästhetischer Geselle. Von Grazie keine Spur!“

Sie war um die Ecke des Hauses getreten, während der Afrikaner im Schatten stehen blieb.

„Ich komme gleich nach!“ sagte sie. „Ich bleibe noch ein Weilchen hier draußen!“

„Jetzt? Allein in der Nacht?“

„Das ist meine Sache! Gehen Sie, bitte, Franklin!“

Der kleine Yankee wagte nichts zu erwidern und schloß fügsam von innen die Thüre. Sie kehrte zu dem andern zurück.

„Ich habe gewußt, daß Sie hier sind!“ sagte sie rasch und beklommen. „Es hatte sich im Hotel und in ganz Chamounix verbreitet, daß Sie den Montblanc allein besteigen wollen. Die Aufregung ist groß. Die Fernrohrverleiher werden morgen einen guten Tag haben.“

Er sah die verschleierte Gestalt an.

„Sie wußten, daß ich hier bin?“ murmelte er. „Und sind trotzdem heraufgekommen?“

„Ja, zu Ihnen!“

Er lachte kurz auf. „Jetzt suchen Sie mich auf!“ sagte er und wandte sich ab. „Jetzt! Wozu?“

Sie folgte ihm. „Weil ich Sie um Verzeihung bitten möchte!“ Es war ein weicher Ton in ihrer Stimme, den er früher nie gehört hatte.

„Dafür, daß Sie mir neulich in Tetuan entwichen sind?“

„Ja.“ Sie stockte. „Dafür und mehr noch … in Gibraltar … als Sie an Bord der ,Liberty‘ kamen. Mein Vater hat Ihnen da auf meinen Wunsch die Unwahrheit gesagt. Ich war nicht drüben auf dem Dschib-el-Musa, sondern an Bord des Schiffes.“

Er sah sie nicht an. „Das hab’ ich wohl gewußt,“ sprach er. „Sie sind mir immer nah’ und doch fern. Sie spielen mit mir. Aber jetzt ist das Spiel zu Ende.“

Sie stand dicht neben ihm. Er glaubte zu erkennen, wie unter dem weißen Schleier ihre Augen sich bang zu ihm aufhoben. „Wenn es zu Ende wäre …“ sagte sie leise, „stünden Wir beide dann hier zusammen? Und würde ich Sie dann um Vergebung bitten? Sie kennen mich! Es war mir nicht leicht. Aber es kommt mir wirklich von Herzen!“

Er schüttelte den Kopf. „Es ist zu spät!“

„Zu spät, um uns wiederzufinden, hier auf den Bergen, wo wir zuerst Freundschaft geschlossen haben?“

„Ja.“

„Und warum?“

„Aus einem sehr einfachen Grunde.“ Er war ganz ruhig. „Weil ich morgen früh tot sein werde.“

Sie trat einen Schritt zurück. „Tot?“ stieß sie hervor.

„Nun ja! Was ist denn dabei? Einmal stirbt jeder! Die meisten in irgend einem dumpfen Kämmerchen, ich oben auf dem höchsten Gipfel von Europa … oder wenigstens auf dem Weg dorthin!“

„Tot?“ Sie rang immer noch nach Worten. „Ich verstehe gar nicht, was Sie meinen!“

„Ich meine einfach, daß meine Tage gezählt sind. Und da ich nicht gerne langsam hinsiechen will, so beschleunige ich den Ausgang. Das halte ich für erlaubt und für anständig. Man bleibt, auch in der angenehmsten Gesellschaft, nicht gerne der letzte Gast, sondern empfiehlt sich still, wenn es an der Zeit ist!“

„Aber woher glauben Sie denn, daß es an der Zeit ist?“

„Soll ich Ihnen eine Krankheitsgeschichte erzählen? Das werden Sie nicht von mir verlangen. Ich weiß, wie fatal Ihnen der Anblick menschlicher Leiden und menschlicher Schwäche ist! Ich werde Ihnen ganz gewiß ihn nicht bieten!“

„Hoffentlich darum, weil Sie sich über Ihren Zustand täuschen!“

„Frau Angela!“ sagte der Afrikaner trocken. „Sie kennen mich seit langer Zeit! Haben Sie je bemerkt, daß ich versucht hätte, mich interessant zu machen, mich anders zu geben wie ich bin und irgend eine Pose anzunehmen?“

„Nein, das gewiß nicht!“

„Nun also! Dann glauben Sie also, bitte, meinem einfachen Wort! Wenn ich sage: ich sterbe, so sterb’ ich! Und zwar morgen früh und mit leichtem Herzen, denn ich kenne den Tod. Ich habe ihn überall gesehen und weiß: Leiden und Kranksein ist schlimm, das Sterben aber eine Kleinigkeit!“

„Und nun,“ fuhr er nach einer Weile fort, während sie reglos und stumm neben ihm stand, „nun ist bald alles zu Ende. Ich habe nicht geglaubt, Sie vorher wiederzusehen! Da wir nun aber doch noch einmal und zum allerletztenmal beisammen sind, möchte ich Sie etwas fragen! Jetzt können Sie ja darauf antWorten!“

„Fragen Sie!“ Ihre Stimme bebte, und es zitterte unter den weißen Schleiern.

Er wandte sich ihr voll zu. „Warum flohen Sie mich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0846.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)