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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


das Todesschweigen unterbricht, indessen am Himmel, strahlend und glitzernd, wie man es nie in den Thälern schaut, die stumme Sternenpracht sich wölbt.

Aber nicht lange dauerte die Dunkelheit. Hinter der Aiguille du Moine stieg ein bläulicher, unbestimmt nach allen Seiten sich verteilender Schein rasch empor. Er wurde stärker und stärker, und plötzlich schwamm, grell leuchtend und gewaltig wie die Sonnenscheibe, scharf von dem fern dahinter liegenden Sterngewimmel abgegrenzt und scheinbar in unheimlicher Größe dicht über der Erde schwebend, der Vollmond am Himmel.

Es wurde beinahe taghell ringsumher. Weithin traten silberübergossen die Montblancspitzen aus der Nacht, die Schneefelder schimmerten in bläulichem, von schwarzen Schattenflecken durchbrochenem Glanz, und auf den zerklüftet und zerrissen in die Nacht der Tannenwälder und Thäler hinabrollenden Gletschern spiegelte sich wie auf den Schuppen eines Fisches das silberne Licht.

Der Mond stand still am Himmel. Die Berge schliefen. Ringsum war Ruhe. Nur ihr schweres Atmen ging zuweilen als ein Sturmhauch durch die Oede. Dann stöhnte es unten in den Schründen und oben auf den Kämmen wehten, vom Himmel her bläulich durchleuchtet, die aufgefegten Eisschleier schweigend im Geistertanz dahin …

*      *      *

Er blickte noch einmal zu den Höhen empor. Dann ging er still im Dunkel nach dem Städtchen zurück. Der heutige Nachmittag war ihm mit der Vorbereitung der Tour, der Beschaffung all der Kleinigkeiten verstrichen, die seine Erfahrung als unentbehrlich für die Montblancbesteigung kannte. Morgen aber, mit dem frühesten, wollte er hinauf bis zum Nachtquartier der Grands-Mulets.

Der Abend war klar und heiter, in seinem frisch von den Höhen niederwehenden Hauch schönes Wetter versprechend. Und klar und froh war es auch in seinem Innern. Der Anblick der Größe hatte ihn befreit. Er war ruhig, wie schon lange nicht mehr, erfrischt und geläutert wie nach einem Bad in kaltem Bergquell.

Die Straße war jetzt, zur Zeit der großen Fütterung in allen Hotels, wenig belebt. Nur die Führer standen noch da und dort beisammen, und manche von ihnen griffen, den Alpenforscher erkennend, an ihre Schlapphüte. Er machte Halt und reichte einem von ihnen, dessen Greisenantlitz fast in einem weißen Urwald von Bart verschwand, die Rechte.

„Wie geht’s, Vater Baptiste?“ frug er freundlich auf französisch seinen einstigen Bergbegleiter. „Was macht der Montblanc?“

Der Patriarch lächelte schmerzlich. „Ach, Monsieur! Ich habe dem Montblanc Adieu sagen müssen. Vor drei Jahren. Es geht nicht mehr mit der dünnen Luft. Nun führe ich nur noch Reisegesellschaften über den Glacier des Bossons, allenfalls auf den Jardin.“

„Das ist freilich traurig. Ein Führer wie Sie, Baptiste!“

„Ja, Monsieur! Und was könnte ich diesen Sommer verdienen! Er ist so gut wie selten einer. Sehr viel Fremde. Man macht nicht nur den Montblanc, sondern auch die seltenen Spitzen. Sehen Monsieur nur da!“ Und er wies hinaus auf den Nachthimmel, an dem in halber Höhe ein winziges, rotes Feuerpünktchen schimmerte.

„Ein Biwak?“

„Ja, Monsieur! Zwei Herren, die mit vier Führern und vielen Trägern die Aiguille du Diable machen wollen! Ein vornehmer deutscher Herr und ein Herr aus Amerika oder Afrika … ich weiß nicht recht!“

„Vielleicht ein ganz großer Mann, mit langem, rotem Schnurrbart, und ein ganz kleiner, glatter?“

„Richtig Monsieur! Monsieur ist wohl mit ihnen befreundet?“

„Ja. Ziemlich!“ Er stockte. „Sagen Sie … ist niemand anders mit den Herrschaften?“

„Doch. Ein alter Herr mit seiner Tochter!“

„Sind sie unten?“

„Ja, Monsieur! Sie wohnen in dem Hotel hier drüben – gleich neben dem Führerbureau. Der alte Herr ist nicht gut zu Fuß.“

Also war sie hier, in seiner Nähe! Jeder Schritt aufwärts entfernte ihn von ihr und führte ihn zur vollen Freiheit. Und da sie jedenfalls nicht ohne ihre beiden Freunde eine Montblanctour unternahm, so war er vollkommen sicher, ihr morgen nicht auf seinem Wege zu begegnen.

„Adieu, Baptiste!“ sagte er. „Morgen geht’s auf die ‚Calotte‘!“

Der Alte sah ihn neidisch an. „Welche Führer nimmt Monsieur denn mit?“

„Keine!“

„Das ist aber sehr gefährlich, Monsieur!“

„Ach ja, Vater Baptiste!“ Der Afrikaner wandte sich zum Gehen. „Das ganze Leben ist gefährlich. Schließlich stirbt jeder daran.“

Er drückte dem Alten, der ihn kopfschüttelnd ansah, die Hand und schlenderte die Gasse weiter.

Da war die Straßenecke mit dem von vereinzelten Hochtouristen, Führern und Trägern umstandenen „Bureau des Guides“ und dicht daneben das Hotel.

Er blieb stehen. Ein plötzliches, unbezwingliches Verlangen kam über ihn, die paar dutzend Schritte bis zu dem Portal zurückzulegen und in den hellerleuchteten Speisesaal einzutreten.

Da saßen jetzt wohl noch die Gäste in langen Reihen an der Table d’hote und nebenan, an einem gesonderten Tisch, wie es ihr Brauch, Angela und ihr Vater. Auf weithin schon mußte er die charakteristischen Köpfe erkennen – des Petroleumkönigs knabenhaftes, gefurchtes Antlitz unter der strohblonden Perücke und daneben das schmale, lockenumrahmte Gesicht, das er seit Jahren nicht mehr gesehen. Denn ihre Begegnung neulich in Tetuan hatte sich ja im Dunkeln abgespielt.

Er brauchte bloß durch den Speisesaal zu schreiten und sich an dem gastlichen Tische niederzulassen! Wenn die Weltwanderer wirklich da waren, wenn nicht wieder wie jüngst in Gibraltar die Enttäuschung an der einsamen Tafel mit Nicolai Rey zu Gaste saß, so würden sie ihn jedenfalls freudig empfangen! Er war wieder unter seinesgleichen, statt unter den Philistern von Genf, und er konnte von ihr Abschied nehmen …

Denn ein Abschied war es ja doch, so oder so – ob er nun da oben leben blieb oder starb! Sie verließ er in jedem Fall auf Nimmerwiedersehen. Da that ein Händedruck beim Scheiden wohl.

Vielleicht erwartete sie ihn schon! Jedenfalls erfuhr sie in Bälde seine Ankunft. Denn so unbeachtet auch der große Fremdenstrom Tag um Tag durch Chamounix rinnt, das Eintreffen einer Persönlichkeit von Bedeutung, eines inkognito reisenden gekrönten Hauptes, eines Staatsmannes oder bekannten Alpinisten wird sofort bemerkt, in den Hotels besprochen und in der wöchentlich erscheinenden „Revue du Montblanc“ angezeigt. Und er war weiß Gott in diesem Thale ein berühmter Mann! Sein Name hatte hier einen guten Klang, seit er vor vielen Jahren die tollkühnen Besteigungen einiger als unbezwinglich geltenden „Aiguilles“, der spitzen, wie vergletscherte Kirchtürme in die Luft starrenden Felsnadeln, ausgeführt.

Er stand immer noch an der Ecke, ohne einen Schritt gegen das Hotel zu thun.

Sein Gesicht wurde finster. „Nein,“ sagte er plötzlich ganz laut und mit fester Stimme und ging geradeaus weiter, das lockende Portal im Rücken lassend.

Nein! Sie sollte ihn nicht wiedersehen. Hatte sie ihn in seiner Kraft und Stärke nicht lieben können, ihr Mitleid mit dem Kranken begehrte er nicht. Es war vorbei und überwunden. „Nein!“ wiederholte er noch einmal und schritt rascher in das Dunkel hinein.

(Fortsetzung folgt.)




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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0819.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2019)