Seite:Die Gartenlaube (1898) 0815.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

und doch voll von einem sehnenden Bangen, das er sich selbst nicht zu erklären vermochte.

Er blieb am Wege stehen und starrte auf die im letzten Abendschein glitzernde Seefläche. Wieder hatte er die rätselhafte Empfindung, mitten auf einem großen, unendlich großen und vielfarbigen Maskenball zu sein, der doch einmal ein Ende nehmen mußte, wenn die Nacht auf Schattensohlen heranschlich, die Nacht, die fern im Osten schon in dem Abendgewölk über dem Horizont brütete. Und es war gut, wenn es zu Ende ging! Es war doch alles klein umher und abgeschmackt und nutzlos. Es lohnte nicht den vielen Lärm und all die Mühen, mit denen das Leben der Millionen sich abhaspelt, kommend und gehend, in rastlosem Spiel, wie die Wellen am Strand.

Aber wie das Ende sein sollte – das wußte er nicht. Wie auch die Gedanken in seinem Kopf sich kreuzten – er fand keinen Ausweg für einen Menschen, der nicht sterben will und nicht leben kann, wenigstens nicht so in Größe sterben oder nicht so aus dem Vollen leben, wie es sein ganzes Wesen verlangte.

In verlorenem Sinnen blickte er über den See und die Stadt dahin und trat plötzlich betroffen einen Schritt zurück, während ein ungläubiges Lächeln sein Gesicht überlief.

Die Wolken fern am Horizont des Ostens hatten sich geteilt. Ein Stück blaßblauer Abendhimmel war sichtbar geworden, und in ihm stand, geisterhaft, wolkenähnlich und doch durch ihren schneeigen Schimmer von ihnen geschieden, eine feierliche weiße Welt von ragenden Zinnen und blendenden Wällen. Eine Märchenwelt über den Wolken, die ihren Fuß umspielten, über der Erde, die um sie im Dämmergrauen versank, ein Gebilde der Ewigkeit, voll ewiger Schönheit und Ruhe, wie aus unermeßlicher Ferne zwischen den zur Seite rollenden Dunstschleiern grüßend.

Kein Abendglühen verklärte die bleiche Majestät des Montblanc. Weiß in weiß stand seine Pracht, kalt und streng und doch zur Andacht mahnend, den Blick nach oben wendend, zu jenen welterhabenen Höhen empor, wo die Himmelswölbung mit der Eiskrone des Bergkönigs sich zu berühren schien.

Und während das Auge des einsamen Beschauers, sich unwillkürlich feuchtend, die alte Herrlichkeit wiedersah, klang, als ein Widerhall vor Stunden gehörter Worte, in seinem Ohr eine helle tröstende Mädchenstimme:

„Ihr Blick gehört nach oben! Sie gehören hinauf in die Höhen!“

Excelsior! Hinauf zu den ewigen Höhen, zu denen den Jüngling schon ein faustischer Drang getrieben, auf denen sich die Brust des Mannes noch im Sonnenstrahl geweitet, wenn unten im Thal schon schläfrige Nacht ihre grauen Fäden zog, hinauf in die Welt, die gewaltig ist in Schönheit und Leiden, dem Lebenden Mark und Kraft verleihend, dem Sterbenden den Tod verklärend durch ihre Größe!

„Eine Besteigung des Montblanc ist für Sie ein Selbstmord!“ hatte der Arzt gesagt. Er lachte zornig auf. Woher wußte der Mann denn das? Kannte er denn den Fremden, der bei ihm eingetreten war? Der war anders wie die andern. Der hatte schon zweimal das Firndiadem des Eisriesen unter seinem Fuße knirschen gefühlt. Warum sollte er ihn nicht zum drittenmal bezwingen?

Und wenn das geschah, dann kehrte er in alter Kraft und altem Selbstvertrauen zurück! Dann war eben das Wunder geschehen, das der Doktor selbst für möglich gehalten, und alles gut!

Freilich, die Zeit der Wunder ist vorbei. Aber blieb es aus – auch recht! Dann erlag er in ehrlichem Kampf mit dem Gewaltigsten, was es in Europa giebt, besiegt von dem Koloß, den er selbst zuvor gedemütigt. Dann ging er hin, wie er gelebt hatte, weit über allem Kleinen und Niedrigen, in männlichem Kampfe um das höchste Ziel.

Er atmete plötzlich leicht. Schwere Lasten lösten sich von seiner Seele. Es ward ihm feierlich zu Mut. Jawohl! In die Einsamkeit von Firn und Schnee wollte er sich flüchten, wie das wunde Wild sein Versteck sucht, und dort sein Gottesurteil bestehen.

Dort sollten seine grimmigen Freunde, die Eisriesen, entscheiden, ob seine Tage gezählt waren oder nicht. Und was sie ihm im Donner der Schneestürze und im Brüllen des Sturmwinds verkündeten, das war ihm willkommen, Leben oder Sterben. Nur nicht das Mittelding zwischen beiden, das Hindämmern in den Thälern!

Das litten die Eisgötter da oben nicht. Die ließen die Starken zu sich kommen und vertilgten rasch und schonungslos, was sich ihnen an Schwachen und Kranken nahte. Dort oben gab es nur die ruhige Unerbittlichkeit der Natur. In ihrer Hand, fern von allen Menschen, von ihrem Mitleid, das er nicht suchte, von ihrer Hilfe, die ihm nichts fruchten konnte, lag dann sein Schicksal.

Das weiße Märchenbild am Horizont wurde blasser und blasser. Wie ein schwindender Traum stand es noch in der Dämmerung, ein geisterhafter Schein, am Himmel, den das Auge mehr noch erriet, als wirklich sah. Dann löste sich auch dieser Schein fast in einem Augenblick in ein Nichts auf. Der Montblanc war in der Nacht versunken. Von allen Seiten schwamm sie heran. Es wurde kühl und grau.

Er drehte sich ruhig um und ging in das Hotel zurück. Aus dem großen Speisesaal tönte das Stimmengewirr und Tellerklappern der Table d’hote. Der Oberkellner wollte ihn hineingeleiten. Aber er wehrte ihm ab. Er habe einen wichtigen Brief auf seinem Zimmer zu schreiben.

Fast ohne eine Pause zu machen, warf er die Zeilen dahin.


 „Liebe Freundin!

Ich möchte Abschied nehmen. Nicht von Ihnen, sondern von den Bergen, den Abenteuern, kurz, meinem ganzen bisherigen Leben.

Dazu giebt es nur einen rechten Ort und er ist nicht weit. Auf dem Gipfel des Montblanc hat sich zum erstenmal mein Leben entschieden. Dort habe ich zum erstenmal, die Länder und Meere zu meinen Füßen, den freien Himmel über mir, die unbändige Sehnsucht, den Drang ins Weite empfunden, der mich seitdem nicht mehr verlassen hat. Dort will ich nun auch die zweite Wandlung meines Daseins durchmachen und einen Abschiedsblick auf Europa werfen, ehe ich hinuntersteige.

Glauben Sie nicht, daß das mich treibt, was ich damals, als sich drüben in Marokko unsere Wege kreuzten, auf meinem einsamen Wüstenritt nach Tetuan suchte. Ich hab’ es Ihnen ja gesagt: Das ist vorbei! Ich weiß, wo Nicolai Rey und seine Tochter in Chamounix wohnen. Ich werde das Hotel nicht betreten, ich werde Angela nicht sehen, sondern sie fliehen, wie sie seither mich geflohen hat, ihr von ferne ausweichen und, so rasch es geht, hinaufziehen in das Eis. Ich kenne den Weg, seine Gletscherspalten und Gefahren, und nehme keine Führer mit. Sie würden mir die Stimmung dieses letzten Bergganges stören, von dem ich hoffentlich als der Mensch zurückkehre, als den Sie mich sehen wollen, heiter, leidlich gesund und mit sich und der Welt wieder so gut wie möglich ausgeglichen.

In wenigen Tagen bin ich wieder da. Bis dahin leben Sie wohl und auf Wiedersehen!“


Auf Wiedersehen! Er kam in Versuchung, das Couvert, das er eben versiegelte, wieder aufzubrechen und die Worte zu streichen. Es war, als ob ihm der Bergwind ins Ohr raunte: Du siehst sie nicht wieder, die da unten auf dich wartet, nie wieder, und es ist gut so. Sie wird dich beweinen und doch glücklicher sein als sie glaubt. Besser, den Toten beklagen als den Kranken pflegen!

Er warf den Kopf zurück. Er war nicht krank. Er wollte es nicht sein! Es gab ja Wunder! Mit festem Willen konnte man sie erzwingen. Und sein Wille war hart wie Eisen. Dem gehorchte der Körper wie eine fügsame Maschine, wohin er ihn auch führte. Er wollte ihn zur Genesung führen in der reinen Luft der Höhen.

Als er dem Kellner den Brief zur Besorgung gegeben hatte und wieder die Treppe hinabstieg, blieb er an dem Speisesaal einen Augenblick unschlüssig stehen. Er schwankte, ob er ihr nicht doch noch einmal die Hand drücken sollte.

Nein! Er ging weiter. Wenn er zurückkam, war Zeit genug zur Begrüßung. Und beklagen konnte sie sich nicht. Denn wer

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0815.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2019)