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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Nähere wird dieser Tage erledigt. Aber jedenfalls kommt dabei so viel heraus, daß zwei bequem davon leben können. Und wahrscheinlich bleibe ich sogar in Deutschland. Wir bleiben alle beisammen! Ach, Kinders … es ist ja fast zu schön, als daß es wahr wäre! Was meinst Du, Hilda?“

Die legte statt jeder Antwort den Kopf auf den Tisch und brach in ein glückseliges, befreiendes Schluchzen aus. Auch in den Augen Klaras und der Gouvernante schimmerte es feucht und der Major wischte sich hüstelnd mit dem Taschentuch an den Wimpern herum, während rings sich Blicke voll spöttischer Neugier auf das ungewohnte Bild richteten.

Der Afrikaner sah das wohl, und es erfüllte ihn mit Beklemmung, daß er, statt sich über die Herzlosigkeit der Fremden zu empören, ihnen eigentlich recht gab. Solche Rührscenen waren wirklich hier nicht am Platz. Wenn sie schon sein mußten, gehörten sie in das Innere des Familienlebens, in jene Welt von kleinen Sorgen, Nöten und Freuden, Eifersüchteleien und Zwistigkeiten, gekränktem Schmollen und weichherzigem Mitempfinden, das da erschreckend plötzlich vor ihm aufwuchs, den Blick in die Weite hemmend.

Es war, als ob Klara seine Gedanken erriete. Sie warf ihm einen bittenden Blick zu und schlug dann nach all diesen Gemütsbewegungen einen Spaziergang in der Abendkühle vor. Die andern waren gleich bereit. Oder besser noch eine Spazierfahrt! In einen Wagen gingen freilich nur vier Personen! Aber man könne ja einen Kahn mieten und auf dem See fahren. In dem Kahn hätten sie alle sechs bequem Platz.

Die Malerin lächelte. „Fahrt nur allein!“ sagte sie. „Unserem berühmten afrikanischen Gast machen solche bescheidene Zerstreuungen keinen Spaß. Oder teilt euch besser nochmals zu je zwei und zwei. Bei der Table d’hote sehen wir uns dann wieder!“

„Ach, und du bleibst inzwischen hier?“

Die Kleine hob das von Freudenthränen verwaschene Gesichtchen und nickte verständnisinnig. „Ich bleibe hier oder gehe spazieren … wie es unser Gast wünscht.“

Der sah über den See in die Weite. „Wenn Sie gestatten, bleiben wir hier sitzen,“ sagte er langsam. „Ich befinde mich gar nicht wohl. Auf Wiedersehen inzwischen, meine Herrschaften!“

Die beiden Brautpaare, das alte und das junge, empfahlen sich. Sie blieben allein.


18.

Sie wartete gar nicht, bis er zu sprechen anhub, sondern begann selbst die Unterhaltung. „Also wieder die alte Melancholie!“ sagte sie, halb lachend, halb besorgt. „... ‚Ich befinde mich gar nicht wohl!‘… Das haben Sie mir schon in Tetuan erklärt, und ich hab’ Sie mit meiner Gardinenpredigt, wie Sie es nannten, kuriert! Nun sollt’ es doch gut sein! Oder muß ich noch einmal von vorne anfangen?“

„Nein!“ Er sah sie trübe an. Natürlich … sie konnte ja nicht wissen, wie es um ihn stand! War es doch ihm selbst bis zu jenem Abend in Nizza nur eine dunkle Ahnung gewesen. „Nein, Fräulein Klara … es hilft nichts!“

Die Malerin schüttelte den Blondkopf und lachte hellauf. „Wenn Sie Ihr Gesicht sehen könnten … seien Sie nicht böse … aber daß ein Afrikadurchquerer eine so sorgenvolle Miene aufstecken könnte, das hätte ich nicht geglaubt. Und das alles wegen ein bißchen Nerven!“

„Es sind keine Nerven!“

„Was denn sonst? Ihr Fieber sind Sie los – das haben Sie selbst schon in Gibraltar zugegeben. Und wenn Ihnen sonst etwas Wirkliches, etwas Ernstes fehlte, das sieht man einem Menschen doch an. Dann reist man doch nicht vierzig Stunden im Schnellzug und geht und ißt und trinkt wie andere Leute. Also was sollte es denn sein?“

Er schwieg. Er hatte nicht den Mut, ihr sofort und unumwunden die Wahrheit zu gestehen. Es war ihm, als würde er dadurch klein vor ihr, ein armer, schutzsuchender, hilfsbedürftiger Mensch statt des Herrn und Gebieters, den ihr Auge jetzt in ihm sah. Wie die meisten kräftigen und an körperliche Strapazen gewöhnten Männer betrachtete er unbewußt jeden Zweifel an seiner Gesundheit als eine Art Beleidigung. Und hier war ja kein Zweifel mehr. Hier war die Gewißheit.

Für ihn. Die blonde Freundin neben ihm mußte ja das Gegenteil glauben! Er sah, wie sie sich zusammennahm, um recht unbefangen zu erscheinen und ihn zu erheitern. „Was sollte es denn sein?“ wiederholte sie und zerpflückte spielend die Rose an ihrer Brust. „Nerven … nichts als Nerven! Das ist durchaus nicht nur unser Vorrecht! Die größten Männer sind davor nicht sicher. Und wenn man das hinter sich hat, was Sie gethan haben … Sie brauchen bloß Ruhe. Vier Wochen vegetieren. Hier oder anderswo. Dann werden Sie sehen, was Sie für ein anderer Mensch geworden sind!“

Vier Wochen! Er mußte lächeln. Gerade den Zeitpunkt hatte er zufällig auch dem Arzt in Nizza genannt und der ihm geantwortet: „Nein, Verehrtester, nicht einen Monat, sondern Ihr ganzes Leben!“

Ein vielleicht noch langes Menschenleben vegetieren. Ihr absichtslos gewähltes Wort klang schmerzhaft in seinem Ohr nach. Aber es gab ihm wenigstens den Anlaß, vorsichtig mit seiner Beichte zu beginnen. „Sie haben ganz recht!“ sagte er. „Vegetieren! Es kommt ’ne Zeit, wo man Ruhe braucht. Mögen dann jüngere Leute sich draußen in Aftika vergiftete Pfeile und Malaria holen und irgend ein Engländer vom Alpine Club statt meiner mit einer Lawine rascher als ihm recht ist, zu Thale gelangen. Ich hab’ jetzt diese Dinge satt. Ich will jetzt meinen Kohl bauen und mich um nichts weiter kümmern!“

Sie sah ihn schweigend an. Er las eine Art Erstaunen in ihren blauen Augen.

„Natürlich ..,“ fuhr er etwas stockend fort. „Allein … das geht nicht. Für jeden Menschen kommt im Leben der kritische Zeitpunkt, wo er entschlossen zugreifen und sich einen eigenen Herd gründen muß. Nicht zu früh. Ich glaube, daß sonst bei vielen Männern das Beste unentwickelt bleibt, daß die rechte, rauhe, zähe Kraft, die man erst in reiferen Jahren gewinnt, durch das Familienleben, den fortwährenden Umgang mit Frauen, Kindern, Tanten, Basen und andern schwachen Wesen verweichlicht wird. Aber auch nicht zu spät. Sonst findet man den Anschluß nicht mehr. Es ist eben ein psychologischer Augenblick. Man kann ihn nicht bestimmen. Man muß ihn fühlen. Und ich habe das bestimmte Gefühl, daß es jetzt für mich an der Zeit ist!“

Sie erwiderte nichts, sondern sah leise lächelnd vor sich nieder in den Sand.

„Wissen Sie, wie ich mir mein Heim denke?“ fuhr er etwas lebhafter fort. „Oder vielmehr unser Heim … ich meine, das meiner künftigen Frau und meines? Hoch oben im bayrischen Hochland … wo die Tannenforsten stehen und darüber der ewige Schnee und noch ein Restchen Romantik aus dieser langweiligen grauen Kulturwelt mit ihren Fabrikschornsteinen und ihrer Druckerschwärze sich hingeflüchtet hat. Wo es noch wirkliche Wildschützen giebt und Schmuggler mit geschwärzten Gesichtern, Gemsenjäger und Bergführer, schöne kraftvolle Menschen in kleidsamer Tracht, die herrliche Natur umher und alles noch erfüllt von der Träumerei und Melancholie des Königs Ludwig – da ist meine Heimat. Da möchte ich mein Leben beschließen. Mir einen der großen Bauernhöfe kaufen, einen Zaun um meine Bergwiesen ziehen und mich dann hinsetzen und sagen: Nun, Welt, laß’ mich in Frieden! Ich hab’ genug von dir gesehen!“

Sie blickte auf und ihr Lächeln wurde stärker. „Und wie lange soll diese Weltflucht dauern?“ frug sie.

„Solange ich lebe! Natürlich … einmal im Winter ein Aufenthalt in München oder ein Ausflug nach Salzburg oder derlei …“

„Lieber Freund!“ Sie ließ ihn nicht weiter reden. „Wie alt sind Sie jetzt?“

„Ich hab’ es Ihnen ja gesagt. Ich bin über die vierzig hinaus!“

„Vierzig! Ja, ist denn das ein Alter für einen Mann!“ Sie schüttelte den Kopf und sah ihn ungläubig an. „In der Vollkraft seiner Jahre zu resignieren? Sich wie ein Einsiedlermönch von allem zurückzuziehen, sei’s auch in den Kreis der Familie? Nein, wenn Sie jetzt in Ihrer Nervosität auf solche Stimmungen geraten, dann müssen andere vernünftiger sein als Sie!“

„Wer denn, zum Beispiel?“

„Sagen wir, Ihre Frau! Ihre künftige Frau!“

„Nun, und was würde die mir Vernünftiges sagen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0810.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2019)