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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ungeheurer Wucht auf den am Ende des Gleises dicht vor der Hallenwand stehenden Prellbock. Wäre dieser von der gewöhnlichen, bis vor kurzem stets üblichen Ausführung gewesen, so hätte ihn die Maschine vermutlich über den Haufen gerannt und die dahinter liegende Wand durchbrochen, um, wie ein Jahr früher eine Lokomotive auf dem Pariser Bahnhof Montparnasse, auf die Straße oder die der Halle vorgebauten, 4 m tiefer liegenden Diensträume hinabzustürzen. Die später zu erörternde Konstruktion des Prellbocks vermochte ihren Lauf aufzuhalten, konnte aber die ungeheure lebendige Kraft eines mit 30 km Geschwindigkeit aufprallenden Zuggewichtes der Lokomotive mit 8 bis 10 Wagen doch nicht vollständig vernichten. Der erste Wagen fuhr ein Stück auf den hinteren Teil der Tenderlokomotive hinauf, zerschmetterte den Führer und verletzte den Heizer so schwer, daß auch er nach wenigen Tagen verstarb. Die Passagiere kamen mit verhältnismäßig leichten Verletzungen davon. Aehnliche Fälle, allerdings leichterer Natur, hatten sich auf demselben Bahnhof bereits früher ereignet und haben dazu geführt, den Bahnsteig und die Halle soweit nach rückwärts zu verlängern, daß die Züge vorschriftsmäßig schon gegen 50 m vor dem Hallenende und dem Prellbock zum Stillstand gebracht werden.

So viel über die vor dem Einlauf in Kopfstationen durchgehenden Züge, zu deren Auffangung neuerdings meist die sogenannten hydraulischen Prellböcke in solchen Bahnhöfen Anwendung finden, in welchen die einlaufenden Gleise unmittelbar in der Bahnhofshalle ihr Ende erreichen. Wie jeder andere Prellbock, so besitzt auch der hydraulische in der Höhe der Lokomotivpuffer zwei Pufferscheiben, welche den Stoß des ankommenden Zuges aufzufangen haben. Während aber derselbe bei gewöhnlichen Prellböcken lediglich durch das Gewicht, die Eisenverstrebung und Verankerung des Bockes aufgenommen wird, besitzen die hydraulischen Puffer je einen in Wasser oder Glycerin tauchenden Kolben, der beim Anprall des Zuges nur äußerst langsam in die betreffende Flüssigkeit hineingepreßt werden kann. Vollständig geschlossene Cylinder würden, da Flüssigkeiten nicht elastisch sind, den Anprall nicht oder nur wenig mildern, deswegen sind die hydraulischen Puffercylinder mit Ausgangskanälen versehen, die aber so eng sind, daß die vom Stempel verdrängte Flüssigkeit nur ganz allmählich und in kleinen Mengen entweichen kann. Fährt also ein Zug gegen die Pufferscheiben eines solchen hydraulischen Prellbocks, so wird seine lebendige Kraft durch den Widerstand des Wassers nicht mit einem Schlage, sondern allmählich vernichtet und der Anprall um vieles vermindert. Nach mehrfachen Versuchen können Züge von 150 bis 200 t Gesamtgewicht, d. h. schwerere als der kürzlich in Berlin durchgegangene Ringbahnzug, gegen einen solchen Wasserpuffer mit einer Geschwindigkeit von 13 bis 15 km anlaufen, ohne daß Passagiere verletzt werden oder erhebliche Materialbeschädigungen vorkommen. Der gewaltige Anprall des Berliner Zuges bei erheblich geringerem Gewicht beweist, um wieviel größer hier die Geschwindigkeit beim Einlaufen in die Halle gewesen sein muß.

Ganz anders liegt der Fall, wenn ein Zug auf freier Strecke oder beim Passieren eines Durchgangsbahnhofes, auf welchem er fahrplanmäßig zu halten hat, seine Bremsfähigkeit einbüßt oder vom Führer aus irgend welchen Gründen nicht mehr beherrscht werden kann. Dann liegt die Gefahr des Zusammenstoßes mit einem andern auf dem Gleis stehenden Zuge nahe.

Besonders leicht gehen auf längeren steilen Gefällen Güterzüge mit Handbremsen durch. Ein solcher Fall hat sich unter anderem auch im Oktober 1890 unmittelbar vor dem Bahnhof in Dresden-Neustadt, wo die Görlitzer Bahn unter starkem Gefälle einmündet, ereignet und ist von sehr schlimmen Folgen begleitet gewesen.

Als ein ausgezeichnetes Mittel zum Aufhalten der betreffenden Züge hat sich das vom Geheimen Rat Köpcke in Dresden erfundene und seitdem mehrfach zur Ausführung gebrachte sogenannte Sandgleis erwiesen. An Stellen, wo das Durchgehen von Zügen nach der Beschaffenheit der Gleis- und Gefällverhältnisse häufiger zu befürchten ist, wird vom durchgehenden Hauptgleise durch eine Weiche ein Seitenstrang abgezweigt, dessen beide Schienen anfangs mit einer leichten und im weiteren Verlauf mit einer dickeren Sandschicht, höchstens jedoch bis zu 5 oder 8 cm Stärke, beschüttet werden. Jedermann weiß, daß es für Fuhrwerke aller Art kein nachdrücklicheres Hindernis giebt als eine andauernde, wenn auch nicht allzu tiefe Sandschicht. Das Befahren eines sandigen Weges erfordert häufig mehr Kraft als selbst die Ueberwindung einer beträchtlichen Steigung, und deshalb ist zur Unschädlichmachung der lebendigen Kraft eines Eisenbahnzuges nichts so sehr geeignet als die Beschüttung der Gleise mit Sand. Da die Sandschicht nur unmittelbar auf und neben den Schienen nötig ist, so faßt man jede einzelne Schiene des Sandgleises von beiden Seiten durch hölzerne Langschwellen ein, welche den Schienenkopf um die Höhe der Beschüttung überragen. Ein solches Sandgleis von 500 m Länge ist nun auch an der oben erwähnten gefährlichen Stelle vor dem Bahnhof in Dresden-Neustadt seit 1895 im Gebrauch. Da dasselbe in erster Linie zum Auffangen der einlaufenden, auf dem steilen Gefälle schwer zu bremsenden Güterzüge bestimmt ist, so steht es für gewöhnlich offen und darf erst geschlossen werden, wenn der betreffende Güterzug am Haltesignal zum Stehen gebracht ist. Güterzüge, die nicht zu halten sind, geraten unter allen Umständen, bevor sie noch Schaden anrichten können, in das Sandgleis hinein und werden darin zum Stehen gebracht. Um aber in solchen Fällen längere Betriebsunterbrechungen zu vermeiden, kehrt das letztere an seinem unteren Ende durch eine zweite Weiche in das Hauptgleis zurück, so daß unter den auf diese Weise zum Stehen gebrachten Lokomotiven oder Zügen nur die Sandschicht entfernt zu werden braucht, um das Weiterfahren durch die untere Weiche zu ermöglichen. Nach dem Auffangen mehrerer Lokomotiven hatte das Rettungsgleis des Dresdner Bahnhofs am 21. Dezember 1895 zum erstenmal Gelegenheit, einen ganzen durchgehenden Zug aufzuhalten und unabsehbares Unglück abzuwenden. Genau wie im Oktober 1890 ging an derselben Stelle abermals ein langer Güterzug von 59 Achsen durch, und zwar in der Dunkelheit der Nacht, die das zu befürchtende Unheil noch bedeutend hätte vergrößern können. Trotz wiederholter und sehr energischer Bremssignale des Führers hatten einige der Bremser nicht rechtzeitig ihre Schuldigkeit gethan, und der Zug ging auf dem steilen Gefälle durch, um, einmal im Lauf, seine Geschwindigkeit trotz des nunmehrigen Bremsens immer weiter zu erhöhen. Schon auf der Hauptstrecke hatte der Führer die bewegten Massen, deren Gesamtgewicht über 400 Tonnen oder etwa das Dreifache des erwähnten in Berlin durchgegangenen Ringbahnzuges betrug, völlig aus der Gewalt verloren. Mit einer Geschwindigkeit von mehr als 40 km passierte der Zug die rettende Weiche des Sandgleises, dann aber verlangsamte sich die Bewegung von Sekunde zu Sekunde, je tiefer sich die Räder in die Sandschicht gruben, und 25 m vor dem Ende der Besandung kam die Lokomotive zum Stehen. Im Gegensatz zu dem Auffangen durch Prellböcke erfolgte der Zusammenstoß der einzelnen Wagen sehr sanft, weder an den Puffern noch an den Kuppelungen fand die geringste Beschädigung statt, und nach Verlauf von 24 Minuten, die zum Abschaufeln des Sandes gebraucht wurden, konnte der Zug seine Fahrt fortsetzen.

Aehnliche Sandgleise sind zuerst im sächsischen und dann auch im Eisenbahnnetz der übrigen deutschen Staaten mehrfach zur Ausführung gekommen, hauptsächlich an gefährlichen Punkten der früher bezeichneten Art, wo auf ein längeres Gefälle fast unmittelbar ein Bahnhof oder eine andere für das Passieren durchgehender Züge besonders gefahrvolle Stelle folgt. Es kann freilich noch andere Ursachen des Durchgehens von Zügen geben. Es kommt, wenn auch äußerst selten, vor, daß eine führerlose Lokomotive oder ein ganzer durch irgend einen unglücklichen Zufall des Führers beraubter Zug zum Schrecken und Verderben aller anderen Züge und zum Entsetzen aller Bahnhofsbeamten allein über die Strecke rast und Station um Station hinter sich läßt, bis der Mangel an Dampf, irgend ein kühner Handstreich eines Beamten oder ein plötzliches Hindernis ihn allmählich oder mit furchtbarem Anprall zum Stehen bringt. Zum Auffangen solcher Durchgänger wäre ebenfalls ein auf größeren Bahnhöfen anzulegendes und nach Bedarf durch Weichen mit jedem Gleise zu verbindendes Sandgleis das geeignetste Mittel. Auch in Kopfstationen, wo freilich naturgemäß der Raum ein beschränkter ist, sollte man nach den günstigen bisherigen Erfolgen die wenn auch noch so kurze Gleisstrecke, welche zwischen dem Haltepunkt der Lokomotive und dem für die äußerste Gefahr aufgestellten Prellbock verfügbar bleibt, mit einer allmählich zunehmenden Besandung versehen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0802.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)