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Zwischen Gräbern.

Novelle in Tagebuchblättern.
Von Ernst Wichert.

So wären denn in so kurzer Zeit die Kränze verwelkt! Auch die Gießkanne voll Wasser, die ich gestern abend dem Gärtner abbettelte, konnte sie nicht mehr erfrischen. Tot – tot! alle die schönen Blumen, die so tröstlich den schwarzen Sarg überfluteten, und dann den grauen, rasch zusammengeschaufelten Hügel. Alle die schönen Blumen! Sie mußten ihm nachsterben. Sie sind das Totenopfer von Lebendigem, das sichtlich vergehen muß – gleichsam zur Vergeltung für den Schmerz um den geliebten Menschen, der uns grausam entrissen wurde. Je größer das Totenopfer, um so mehr war er geliebt, geehrt worden im Leben.

Ich fürchte, das ist eine recht heidnische Vorstellung. Und wer denkt denn auch, wenn er Blumen spendet, an ihr Verwelken? Eine Liebesgabe sind sie, erfreuen sollen sie mit ihrer duftigen Schöne das bekümmerte Herz der Leidtragenden, verdecken sollen sie ihnen in der schwersten Stunde des Abschiedes alles Grauen des Todes, schmücken die Stätte traurigster Erinnerung. Was können sie dafür, daß sie so bald erst recht traurig an die Vergänglichkeit alles Irdischen mahnen? Verwelkte Blumen auf einem neuen Grabe – es kann für sie kein passenderes Symbol geben.

Aber der Lorbeer der Kränze hält sich grün. Sie bedecken dicht den ganzen Hügel, zwei, drei übereinander. Und die vielen weißen Schleifen mit Goldaufschrift! Ich habe sie so geordnet, daß sie alle gut zu sehen und zu lesen sind. Nicht aus Eitelkeit, aber aus Dankgefühl für die freundlichen Spender. Und diese Zeichen der Teilnahme thun auch so wohl!

Der gute, alte Papa – ja, er hat viel Liebe gehabt! In seinem Ministerium, dem er ja länger als zwanzig Jahre in treuester Arbeit diente, bei Vorgesetzten und Untergebenen, in den Wohlfahrtsanstalten, die er beaufsichtigte, in den Familien, die in seinem gastlichen Hause verkehrten, in dem Kreise der Landsleute und Studiengenossen, die er beim Glase Wein zusammenhielt. Ich bilde mir nicht ein, daß alle, die ihm den letzten Liebeszoll entrichteten, Freunde waren, aber einem herzlichen Bedürfnis folgten sie gewiß. Und ganz vergessen wird ihn keiner, der ihn gekannt hat.

Uns, die wir ihn liebten, müßte der Verlust um so schmerzlicher scheinen. Es ist doch nicht so. Etwas Freudiges mischt sich besänftigend ein: wie gut ist er den Menschen gewesen und wie viel Dank hat er geerntet!


Wir besuchen den Friedhof täglich, die alte Mutter und ich. Der späte September hat noch so schöne Tage gebracht, man könnte stundenlang im Freien verweilen. Besonders zur Zeit gegen den Sonnenuntergang hin ist’s herrlich da, wenn die goldigen Strahlen über den bekränzten Hügel flimmern und das schon rötliche Laub der Sträucher und Bäume in der Nähe die eisernen Gitter und Gedenksteine purpurn färben.

Unser Plätzchen ist so hübsch, so ausgesucht hübsch. Der Friedhof zieht sich an der sanften Schwellung des Erdbodens hinauf, und seitlich, nicht fern von der niedrigen Mauer und doch in nicht beengendem Abstande von ihr, fast schon oben, liegt die Grabstätte. Alte Gräber grenzen an, epheuumsponnene kleine Blumengärtchen, umgeben von Taxus, Trauereschen und Weiden; die Linden im Hintergrunde am Wege überragen sie. Nur nach der Mauer hin ist der Raum frei, sich leise abdachend. Man sieht über sie weit hinaus auf die große Stadt mit ihren Kirchtürmen und Kuppeln, wie sie überall aus dem Häusermeer auftauchen, und ein wenig an ihm vorbei in die weite, noch nicht bebaute Ebene, mit den Kieferwaldungen in der Ferne. Wir werden uns ein Bänkchen aufstellen lassen, um im Sommer da mit unserer Handarbeit oder einem Buch sitzen zu können. Kein Abend soll ohne unseren Besuch vergehen.

Wir stehen wohl eine Weile schweigsam. Aber unsere stillen Gedanken suchen bald den Austausch. Wir wollen einander nicht trauriger stimmen. Gewiß nicht. Aber auch die heiteren Erinnerungen treiben uns gleich die Thränen aus den Augen. Und wie heiter konnte er sein, der liebe, alte Papa! Er gehörte zu denen, die sich im Alter verschönen. Diese freundlichen Augen, dieser lachende Mund! Der Ausdruck ganz Güte und Wohlwollen. Er konnte nichts schwer nehmen, wenn auch das Ernste ernst. Es war immer, als ob er mahnte: laßt doch nur den Tag darüber hingehen, wartet doch nur bis morgen, dann schiebt sich alles von selbst wieder zurecht und die Welt sieht freundlich aus.

Und wenn er eine Geschichte erzählte! Man merkte ihm das Behagen an. Freilich mußte man Geduld haben, ihn erst auf allerhand Umschweifen zu begleiten. Aber wenn dann alle Fäden geschlagen waren und noch immer niemand ahnte, worauf er eigentlich hinauswollte, kam überraschend die Pointe mit voller Siegessicherheit. Er erzählte wohl auch Anekdoten, aber am liebsten doch kleine eigene Erlebnisse, die an sich ganz unbedeutend waren, aber durch den Vortrag wahre Kabinettstückchen guter Laune wurden. Merkwürdig! Er hatte immer etwas erlebt. Uns liebte er zu necken, auch manchmal weit ausholend. Man konnte sich darauf üben, wie aufs Rätselraten, und mißverstand ihn dann nicht leicht. Ich wußte schon immer voraus, daß ich ihm würde stillhalten müssen, wenn er mich listig anblinzelte, die Nasenspitze rieb und mit den Lippen zuckte. Wie gern ließ ich seinen harmlosen Spott über mich ergehen! Mir fehlte etwas, wenn ich bei einem Mittags- oder Abendessen nicht gehänselt war. Und wie liebte er „seine Jüngste“!

Es war so rührend, wie er sein Leiden zu verstecken wußte oder es vor uns fortzuscherzen bemüht war. Als ob er sich gar nicht genug über seine Schwäche lustig machen könnte! Und als die böse Krankheit ihn dann doch niederwarf und der Arzt sich auf keine Zeichensprache einlassen wollte, uns die Wahrheit vorzuenthalten, und wir weinend an seinem Bett standen – nein, das kann ich mein Leben lang nicht vergessen, wie er sich da lächelnd zu uns wandte und mit leiser Stimme sagte: „Warum weint ihr denn? Es geschieht doch nichts, als was lange vorhergesehen werden mußte, das Allermenschlichste. Ihr solltet froh darüber sein, daß wir eine so schöne Zeit miteinander verlebt haben und uns so gut geworden sind, daß ein Verlieren gar nicht möglich ist. Habt ihr mich lieb, so vergönnt doch diesem Restchen Dasein noch so viel Heiterkeit, als es irgend ertragen kann. Wollt ihr? Wir verkehren miteinander wie immer.“

Noch ganz kurz vor seinem Tode erzählte er, daß er soeben einen recht drolligen Traum gehabt hätte. Es wäre ihm angeboten, ein steinreicher Mann zu werden, wenn er bis zu seinem Lebensende nicht mehr lachen wolle; denn das Reichwerden sei eine sehr ernste Sache für Leute, die nur stets ungefähr so gerade ausgekommen wären. „Ich dachte an euch,“ fuhr er fort, „und hatte schon nicht übel Lust zuzugreifen, denn lange konnte ja die Prüfung nicht dauern. Da fiel mir aber noch zu rechter Zeit ein, doch erst mal in den Spiegel zu sehen, ob ich auch so ein Gesicht machen könne, als von mir gefordert wurde. Und denkt euch, da sah ich so furchtbar komisch aus, daß ich hell auflachen mußte. Darüber erwachte ich. Nun thut mir’s doch recht leid, daß ich mich nicht ein bißchen besser zusammengenommen habe.“

Der gute, alte Papa! Er ist so hinübergeschlummert, gewiß mit noch lustigeren Träumen. Auf seinem Gesicht lag’s, als ob er sagen wollte: wartet nur, bis ich aufwache; ich hab’ euch noch etwas zu erzählen.

Ob ich aber jemals wieder werde lachen können? Lachen, wie früher? Wenn man einen so lieben Menschen hat sterben sehen –! Der nimmt allzu viel mit. Nein, nein! Das Leben ist mir plötzlich ernst geworden, sehr ernst.


Wir haben nun beschlossen, den Hügel sogleich mit Rasen belegen zu lassen, mag sich auch die Erde noch nicht genügend gesenkt haben. Er wird bei dem fortgesetzt sonnigen Wetter gut eingrünen und dann im Herbst und Winter dem Grabe ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0790.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)