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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Ja, was soll ich denn thun?“

„Ein möglichst ruhiges, eingezogenes Leben führen … auf dem Lande, in frischer, guter Luft … ohne viel Lärm und Zerstreuung … in einem kleinen Kreise sympathischer Menschen … – Darf ich mir die Frage gestatten, ob Sie verheiratet sind?“

„Nein!“

„Nein? Hm … ja, wie ich sagte, in kleinem harmonischen Kreise. Geistige Thätigkeit mit Maß und Ziel. Hingegen, was körperliche Anstrengungen und Excesse aller Art betrifft … die sind unbedingt schädlich und müssen vermieden werden. Ein kleiner Spaziergang täglich, besser noch eine Spazierfahrt … keine Erhitzung, kein Treppensteigen … kein Alkohol und Tabak … abends zeitig zu Bett … leichte Diät … keine Sorgen und Affekte ...“

„Nun hören Sie aber, bitte, mal auf!“ sagte der am Fenster trocken. „Was bleibt denn da noch vom Dasein übrig? Glauben Sie, daß ich solch eine Existenz auch nur vier Wochen lang aushalte?“

„Sie werden wohl müssen!“

„Vier Wochen lang?“

„Nein!“ Der Sanitätsrat hatte sich gleichfalls erhoben und war zu seinem Patienten getreten. „Sie sind doch zu mir gekommen, um die volle Wahrheit über Ihr Befinden zu hören?“

„Freilich!“

„Und da Sie ein Mann sind, werden Sie das, was ich Ihnen jetzt sagen muß, auch tragen können. Es handelt sich nicht um vier Wochen, es handelt sich um Ihr ganzes übriges Leben!“

„Was?“ Der Afrikaner fuhr herum. Ein gewaltsamer, schmerzhafter Schrecken durchzuckte ihn. und er preßte unwillkürlich die Hand an die Brust.

„Ihr ganzes Leben,“ wiederholte der andere ernst. „Sie müssen sich das alles jetzt ganz anders einrichten, und es trifft sich ja noch sehr gut in all dem Unglück, daß Sie ohnedies die Absicht hegen, den Abenteuern Valet zu sagen und sich zur Ruhe zu setzen … vielleicht auch sich einen häuslichen Herd zu gründen, was natürlich eine derartige Existenz außerordentlich erleichtert … Verzeihen Sie, wenn ich mir rein vom ärztlichen Standpunkt aus diese Anregung gestatte …“

Der Afrikaner trat dicht vor ihn. „Was fehlt mir denn eigentlich?“ frug er rauh und gepreßt.

„Wir nennen es Aneurysma. Eine Ruptur, ein leichter Riß in den Blutgefäßen am Herzen, hervorgerufen durch den Sturz mit dem Pferde.“

„Na … aber das … das muß doch auch wieder besser werden!“

„Besser wird es nicht. Die einzige Sorge muß sein, zu verhindern, daß es schlimmer wird. Und das wird verhindert, wenn Sie so leben, wie ich Ihnen sagte. Dann ändert sich Ihr Zustand nicht und bietet zu weiteren Besorgnissen keinen Anlaß.“

„Bloß, daß ich dabei verrückt werde!“

„Ich dachte doch, Sie wollten sich freiwillig zur Ruhe setzen,“ sagte der Arzt etwas erstaunt. „Noch ehe Sie das wußten …“

„Freilich … ja! Das ist’s ja eben. Aber gezwungen …“

„Sie sind dazu gezwungen! Ich beklage es, aber …“

„Aber wenn ich es nun nicht thue?“

Darauf gab der Arzt keine direkte Antwort. „Es wäre doch schade, wenn Sie in so blühendem Alter schon der Wissenschaft und Ihren Freunden entrissen werden sollten!“ sagte er. „Glauben Sie mir, der Mensch gewöhnt sich an vieles! Sie werden es schließlich auch gewohnt sein …“

„… daß ich ein Spitalbruder bin … ein unnützer Tagedieb …?“

Ein melancholisches Lächeln glitt über das Gesicht des Arztes. „Es ist gewiß traurig, einen Teil seines äußeren Menschen gewissermaßen einzubüßen. Aber das beste in uns, der innere Mensch, wird davon nicht berührt. Gerade einem geistig bedeutenden Manne, einem Gelehrten öffnen sich doch Daseinsziele und Bethätigungen, die gar nichts damit gemein haben, daß Sie nicht mehr imstande sind, eine Flasche Champagner auszustechen oder einen hohen Berg zu ersteigen. Und dazu kommen die Bande von Herz und Gemüt, die uns mit anderen Menschen verknüpfen. Man lernt die Menschen erst kennen, wenn man auf sie angewiesen ist, und dann findet man in manchem mehr als man hoffte. Sollte wirklich nicht volle Unabhängigkeit, Freundschaft und vielleicht auch Familienglück einem Manne über ein körperliches Gebrechen hinweghelfen können!“

„Jetzt weiß ich es!“ Der Afrikaner suchte seinen Hut und lächelte finster. „Sie irren sich einfach. Sie täuschen sich. Solch eine Krankheit giebt es gar nicht.“

Der Arzt blieb ruhig. „Wenn ich darauf überhaupt antworte,“ sagte er, „so trage ich Ihrem begreiflicherweise gereizten Zustand Rechnung: Fragen Sie, welchen Arzt Sie wollen, hier oder anderswo, Sie werden den gleichen Bescheid erhalten.“

„Und das ist sicher?“

„Vollkommen sicher!“

„Nun, dann danke ich Ihnen!“ sagte der Afrikaner, reichte ihm die Hand, ließ einen Hundertfrankenschein auf der Ecke des Schreibtisches liegen und ging.

*  *  *

Er war wie betäubt, als er auf die schon dämmernde Straße trat. Ohne rechts und links zu schauen, wanderte er in der Richtung, die er wahllos eingeschlagen, weiter, durch die schwatzenden Gruppen italienischen Volkes, unter den hochgespannten Sonnendächern der Läden hin, zwischen den weit auf die Straßen hinausgerückten Tischchen und Stühlen der Cafés durch, bis die schwüle, staubige Stadtluft plötzlich um ihn verschwand und ein herber Hauch den kalten Schweiß von seiner Stirn trocknete.

Da war das Meer. In weißen Schaumkämmen rollte es endlos heran aus der Nacht, die weithin schon über den Wassern graute, daß Himmel und Wellen in eins verschwammen. Und wenn es auch nur das zahme Mittelmeer war: auch von ihm ging, wie es da in unbeschränkter Weite vor dem Blick sich dehnte, das Gefühl der Größe, der befreienden Unendlichkeit des Raumes aus.

Und mit ihm das Gefühl der eigenen Kleinheit. Eines Ameisenbewußtseins unter dieser weiten Himmelswölbung. Was lag daran, ob einer unter diesen Millionen und Hunderten von Millionen achtlos zertreten am Wege lag? In kurzem starben sie ja alle, neue Millionen und Milliarden folgten und wanderten ins Grab, und gleichmäßig, als sei nichts geschehen, lacht die Sonne und grüßen die Sterne und kreiselt dies Sandkorn, auf dem wir leben und leiden, weiter durch den Weltraum.

War es wirklich so lohnend, dieses Sandkorn, diese enge, auf kurze Frist uns angewiesene Behausung von Lehm und Wasser in allen Winkeln zu erforschen? Die kurze Spanne Zeit, die uns angewiesen, darauf zu verwenden, um festzustellen, daß unter dem Polarkreis und dem Aequator, in dem Morgen- und Abendland die Menschen zu Millionen und Milliarden leben und altern und sterben und neue erstehen, daß überall die grünen Blätter sprießen und das welke Herbstlaub fällt, daß überall der Wind braust und die Wolken ziehen und die Wellen wandern?

Nein, das alles war nur Schein. Bunter, schöner Schein! Der Kern der Dinge lag tiefer. Was unbewußt da innen webt und rätselhaft in einer anderen Brust wiederklingt, das war das Ahnen der wirklichen Welt, die wir nicht begreifen können, weil unsere Augen blind sind und unsere Ohren taub. Das war das Leben. Darin hatte der Arzt eigentlich recht, wenn er von dem inneren Menschen sprach im Gegensatz zu dem zerbrechlichen Gehäuse.

Und er selbst hatte sich ja nach diesem inneren Glück gesehnt! Er stand ja im Begriff, es aufzusuchen! Es war ja wie ein Almosen des Geschicks, daß es ihm wenige Minuten nach dem verhängnisvollen Sturz vom Pferde in jener regenüberströmten marokkanischen Karawanserai den Menschen zugeführt hatte, der nichts anderes begehrte, als sein Leben, und gewiß auch alles Leid des Lebens, mit ihm zu teilen.

Er war langsam die jetzt in der Sommernacht fast menschenleere Promenade des Anglais hinabgeschritten. Jetzt setzte er sich auf eine Bank und schloß die Augen. Ein unbestimmtes Rauschen war um ihn, ein leise wehender Hauch – sonst kein Laut weit in der Runde.

In seinem ganzen Inneren zitterte etwas nach – weniger der Schrecken als ein ungeheures Erstaunen. Auf alles war er vorbereitet gewesen – auf den Tod in jeder denkbaren Form. Aber auf das Siechtum? Nein. Das kam ihm so unerwartet, so unbegreiflich, daß er immer noch wie aus einem Traume aufzuwachen hoffte, und dabei doch wohl wußte, wie nüchtern wirklich das alles war. Und es war ihm nicht einmal Zeit vergönnt, sich von diesem Blitzschlag zu erholen, sich in Ruhe zu sammeln. Die drei Schwestern blieben nur kurze Frist in Genf. Wollte er die Reise dorthin antreten, so mußte es morgen geschehen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0780.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)