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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Hand, wenn kein anderer Rat mehr blieb – irgendwie waren schon die meisten hingegangen, die mit ihm kämpften und strebten.

Und nun öffnete es sich vor ihm plötzlich auf seiner unsteten Wanderschaft wie ein entlegenes, liebliches Seitenthal voll Sommerschweigen und Frieden, und eine freundliche, blonde Gestalt winkte ihm lachend: „Tritt bei uns ein! Hier findest du die Ruhe!“

Noch stand er draußen, wo der Sturm über die Heide pfiff. Noch hatte er die Wahl. Und es war ein eigenes Vergnügen, mit dem Gedanken an das Glück im Thale zu spielen, um ihn herumzugehen, ihn zu meiden und zu fliehen beinahe zu gleicher Zeit.

Wenn er ihn noch meiden konnte! Er fühlte mit einer Art Schrecken, wie etwas gebieterisch da drinnen nach Rast und Schonung drängte – ein Gebot der Natur, das stärker war als dies trotzige, ungeduldige Herz und es, wenn es dagegen pochte, mit hartem Griff niederzwang.

Jetzt eben wieder! Er fühlte ein schmerzliches Stechen, der Atem stockte. Nur einen Augenblick – dann war es wieder vorbei, und er schaute, wie aus einem Traum auffahrend, in das Völkergemisch umher, das, wie die Bienen vor dem Stock, um den Eingang zum „Cercle des Etrangers“ summte und schwärmte. Ein alter Franzose, der neben ihm auf der Bank saß, taxierte zu seinem Vergnügen die frohen oder enttäuschten Gesichter der Herauskommenden und wie einzelne Tropfen fielen die Worte „gagné“ – „perdu“ – „perdu“ – „gagné“ voll schläfrigen Interesses von seinen Lippen. Und von drüben her schmeichelte sich immer noch das Lied von den drei kleinen Schulmädchen aus dem „Mikado“ ins Ohr, die Rosen- und Veilchenbeete prangten und blühten in einem Rausch von Duft, das Mittelmeer leuchtete weithin an der von den Lichtpunkten der Villen und Dörfer besternten Küste in einem tiefen, satten Blau wie der wolkenlose Himmel darüber, und sein kühlender Seewind koste mit den Fiedern der Palmen, dem Schwarz der Lorbeerhaine und Cypressen, dem saftigen Hellgrün der englischen Rasenflächen, hinter denen sich palastartig die Hotels um das liebliche Raubnest scharten.

Aber seine Augen sahen die schmeichelnde Pracht ringsum nicht mehr. Sie blickten zurück, in einen regendrohenden, grauen Abend: zerrissene Felszacken rings um das einsame Hochthal und von ihnen herabfahrend heulende Sturmstöße über das zischelnde Zwergpalmengestrüpp, das Dickicht von stachligen Agavenhecken und schlanken Aloestauden am Weg. Und aus dem Dickicht war, wie von einem unsichtbaren Zügel des tückischen Zufalls geleitet, der Stier getreten und stärker gewesen als der Mensch. Der lag am Boden und das Pferd auf ihm. Seit diesem Sturz war die Wandlung in seinem Wesen eingetreten, das Gefühl des Krankseins, das er sonst selbst bei heftigen Fieberschauern dank seiner sich aufbäumenden Lebensenergie nie eigentlich als etwas Ueberwindendes, ihn wehrlos Machendes so wie jetzt empfunden, und mit ihm der Drang nach Ruhe. Wohl hatte die erste Berührung mit der Kultur, Klaras aufmunternde Worte, der Verkehr mit Europäern, die veränderte Lebensweise, die Seeluft anfangs auf ihn erfrischend und anregend gewirkt, so daß er das Abenteuer und seine Folgen ein paar Tage ganz vergaß.

Aber jetzt, wo er wieder allein war, wo der erste Reiz der wiedergewonnenen Civilisation nachließ, jetzt meldeten sie sich wieder an und wurden von Tag zu Tag stärker. Zwar das Fieber hatte er, sowie er in der Apotheke frisches und gutes Chinin erhalten, sofort unterdrückt. Und kehrte es auch einmal wieder, so kannte er es ja seit vielen Jahren als seinen treuesten afrikanischen Begleiter und wußte: der war nicht mehr imstande, ihn zu erschüttern und sein eigentliches Wesen zu ändern.

Das kam von jenem bösen Abenteuer mit dem Stier, dieser plumpen Falle des Schicksals, das ihn aus so vielen wirklichen Gefahren errettet hatte, um ihn am letzten Tag einer zweijährigen Reise diesem hirnlosen Vieh auf die Hörner zu liefern.

Der Zorn übermannte ihn. Er stand auf und ging langsam die Promenade entlang. Es war kein Zweifel: er war krank. Und kranke Menschen fassen Entschlüsse, die sie vielleicht nachher bereuen! Diese Reise nach Genf, die über sein ganzes künftiges Leben entschied, die mußte bei kühlem, klarem Bewußtsein unternommen werden, in der vollen Sicherheit, daß ihn nicht eine vorübergehende trübe Anwandlung infolge von Körperleiden in den Hafen der Ehe und der Ruhe trieb.

Dieses Leiden mußte ja doch nun einmal auch wieder besser werden, und dann erst hatte er die völlig freie Wahl, ob er rechts oder links gehen sollte.

Ob er einen Arzt zu Rate zog? Sonst hielt er nicht viel von ihrer Kunst. Was hätten sie ihm auch im Herzen Afrikas helfen können, wo jeder sein eigener Doktor ist und sich mit Chinin und Selbstvertrauen kuriert? Aber jetzt kam ihm, während er, beinahe ohne es zu wissen, den Weg zum Bahnhof hinunterstieg, doch der Gedanke, auf diese Weise Sicherheit zu erlangen. Wozu sich unnütz quälen und eine Sache hinziehen? In Nizza gab es treffliche Aerzte aller Nationen. Zu dem besten von ihnen wollte er gehen und sich ein paar Tropfen oder so etwas verschreiben lassen. Dann war die Sache wohl bald abgethan und er konnte über den ganzen kläglichen Zwischenfall und über die Beklemmung lachen, die sich ihm jetzt immer wieder um die Brust legte.

Eben, als er in den Bahnhof trat, fuhr einer der zahlreichen Züge nach Nizza ein. Er hatte gerade noch Zeit, das Billet zu nehmen und einzusteigen. Dann trug ihn die Bahn durch die Pracht südlicher Gärten hin längs des blauschimmernden Meeres nach der nahen Fremdenstadt.


16.

Der Arzt, ein alle Sprachen beherrschender Deutscher, war nur durch Zufall aus Kissingen, wo er den Sommer über praktizierte, auf ein paar Tage in Geschäften nach Nizza gekommen und der Besuch eines Patienten war ihm unerwartet. Doch verweigerte er die Konsultation nicht, sondern vollzog gründlicher vielleicht noch als sonst, wenn ihn der Schwarm der Wartenden im Vorzimmer zur Eile drängte, die Untersuchung. Ihr Ergebnis aus dem unbeweglich ruhigen bebrillten Gesicht zu lesen, war unmöglich. „Sie haben unregelmäßig gelebt?“ frug er, während der Patient sich Rock und Weste wieder zuknöpfte.

Der mußte über die Frage lachen. „Wie man in Afrika und sonstwo unter den Wilden lebt!“ sagte er. „Viel Sinn für Pünktlichkeit und Ordnung hat die Gesellschaft nicht.“

„Viel Anstrengungen und Entbehrungen haben Sie auch durchgemacht?“

„Jedenfalls mehr als in Europa üblich ist!“

„… und geistige Getränke genossen?“

„… Wenn ich sie hatte, mit großem Vergnügen.“

„Nun ja.“ Der Arzt nahm seine Brille ab und polierte sie sorgfältig blank, während er in der dadurch entstandenen Pause nach Worten suchte. „Und dazu kam nun, wie Sie angeben, dieser Sturz als äußerer Anlaß …“

„Ja, die Affaire mit dem Stier. Es ist kaum glaublich, daß das erst acht Tage her ist …“

„Nun sagen Sie, bitte …“ Der Sanitätsrat sprach langsam und bedächtig, als wollte er jede Silbe auf die Goldwage legen. „Was sind, wenn ich danach fragen darf, Ihre Zukunftspläne? Ich meine, Sie sind ja ein stark bewegtes, an Abenteuern reiches Leben gewohnt. Beabsichtigen Sie, dies Leben auch in Zukunft fortzusetzen – ich meine, wieder nach Afrika zu gehen, oder ähnlichen Gegenden – oder haben Sie vielleicht mehr im Sinn, sich künftig der Ruhe und Erholung, wissenschaftlichen Studien und dergleichen zu widmen?“

Der Angeredete schaute ihn erstaunt an. Wie kam der Arzt zu der Frage? Er konnte doch unmöglich wissen, vor welcher Entscheidung sein Patient stand, und trotzdem trafen seine Worte gerade diesen Punkt, um den sich alles für ihn drehte.

„Gehört das eigentlich hierher?“ frug er etwas brüsk.

„Ja. Ich möchte meine weiteren Mitteilungen bis zu Ihrer Antwort verschieben.“

„Nun.“ Der Afrikaner sah gedankenvoll vor sich hin. „Eigentlich . . ehrlich gesagt . . habe ich augenblicklich keinen besonderen Drang zu neuen Erlebnissen. Ich möchte lieber wenigstens eine Zeit lang irgendwo unterschlupfen und mich pflegen lassen.“

Der Arzt lächelte befriedigt. „Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde. Eben dasselbe muß ich Ihnen raten, dringend raten. Sie brauchen vollkommene Schonung.“

„Ach, Schonung!“ Der Forscher stand ärgerlich auf. „Wenn ich mich geschont hätte, wäre ich schon lange tot.“

„Und wenn Sie sich jetzt nicht schonen, werden Sie’s sein!“ Die Stimme des Arztes klang plötzlich fester und bestimmter als bisher. „Ich muß es Ihnen sagen, es ist meine Pflicht!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0779.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)