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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

In Genua gelandet, hatte der Afrikaforscher gerade an der Station Monte Carlo der Mittelmeerbahn seinen nach Marseille führenden Wagen verlassen. Warum, wußte er eigentlich selbst nicht. Es schwebte ihm ein unbestimmter Eindruck der Spielerstadt als eines Ortes vor, wo man ungestört war, weil hier überhaupt niemand auffiel, und mit sich und seinen Gedanken ins reine kommen konnte. Hinter einer dicken alten Dame am Roulettetisch stehend, warf er mechanisch ab und zu ein paar Fünffrankenstücke auf das grüne Tuch, wohin sie eben fielen, und sah teilnahmlos zu, wie die Harke des Croupiers sie einheimste oder verdoppelte. Eigentlich war das Ganze höchst langweilig. Nichts von jenem prickelnden Reiz, mit dem man in den Schilderungen der „Spielhölle“ so freigebig umgeht, von jenem schmeichelnden Hauch des Lasters und der Sünde, der angeblich über diesen magischen Tischen brütet. Die Besucher: jetzt zur Sommerszeit meist schlechtgekleidete, beklommene Touristen, die halb über ihre eigene Kühnheit erschrocken und zugleich stolz darauf zu sein schienen, dazwischen allerhand unzweifelhaftes Pariser und internationales Gaunervolk, dem scharfen Blicke des Weltreisenden in keiner Weise interessant, sondern einfach widerwärtig und Vorsicht gebietend, wie vieles andere Gesinde!, das er in allen Hafenstädten der Erde thätig gesehen. Ja selbst das aus allen Büchern berühmte, näselnde „Faites votre jeu, Messieurs!“ fehlte. Die Croupiers sprachen durchaus wie andere Menschen und benahmen sich nicht auffallender als ein gewandter Verkäufer hinter seinem Ladentisch.

Eben jetzt streckte der Bankhalter seine Harke aus und zog das vor dem Afrikaner liegende Silberhäufchen, das dieser unachtsam schon dreimal hatte stehen lassen, mit einem gleichgültigen Ruck zu sich heran, was die alte Dame sofort zur Einzeichnung einer Reihe geheimnisvoller Punkte auf dem vor ihr liegenden Papptäfelchen veranlaßte. Der hinter ihr aber hatte von der Dummheit genug. Er verließ seinen Platz bei der Sibylle des Roulettetisches und ging gelangweilt durch den Saal.

Dieses halblaute Summen, diese langen Tafeln, an denen die schwarzen Menschenmauern sitzend und stehend in mehrfachen Reihen beinahe übereinander klebten, wie die Fliegen um den Rand der Zuckerschüssel, ja selbst das Geld, um das sich hier alles drehte, die auf dem grünen Billardtuch flimmernden Silberhäufchen, und drüben, in dem vornehmeren Saal des Trente-et-Quarante, die rotgoldenen Scheiben der Hundertfrankenstücke und die knisternden Noten – selbst das erschien ihm alles so unendlich thöricht und kleinlich – spießbürgerhaft, gimpelhaft beschränkt, wenn er an die Wildnis dachte, deren nächtliches Windesklagen und Raunen in zerklüftetem Gestein, deren gewaltiger Sonnenbrand über endlos glühenden Steppen ihn eben noch umfangen.

Und als er draußen vor dem Eingang des Spielsaals sich auf eine Bank niedergelassen hatte, um sich das babylonische Sprachengewirr, das Seidenrauschen, den Cigarettendunst und Parfümhauch des Weltnestes, da fühlte er in sich die alte Sehnsucht nach der Wüste. Dort war die Einsamkeit das Selbstverständliche. Hier wirkte sie drückend auf ihn, wie auf einen Menschen, der allein ein großes Wachsfigurenkabinett durchwandert und all die starren Augen, das stereotype Lächeln auf sich gerichtet sieht. Alle diese Menschen kamen ihm wie Schemen, wie Schatten vor. Er war ihnen fremd geworden, sie berührten ihn beinahe unheimlich, den schweigsamen Gast aus fernen Landen, dessen gebräunten und gefurchten Zügen der Schwarze Erdteil seinen Stempel aufgedrückt hatte.

Aber ging es ihm dort nicht ebenso? Den Blick auf das blaue Mittelmeer gerichtet, von hochgefiederten Palmenfarren überschattet, verfiel er ins Träumen, während vom Pavillon her über die schmeichelnden Weisen der Kapelle klangen und auf ihren Tonwellen sich wiegend ein süßer Blumenduft die Luft durchzitterte. War er dort nicht erst recht ein Fremdling, unter Wilden, die er selbst kaum als Menschen ansah – war er nicht ein Fremdling überall?

Ueberall, wohin ihn sein unruhiger Wandertrieb geführt, und es gab wenig Orte auf der Erde, die er nicht betreten. Er war der Gast des weißen Zaren in Petersburg gewesen und hatte, mit Kannibalenkönigen in Centralafrika Blutsbrüderschaft getrunken. Auf dem thrantriefenden, verwetterten Robbenfänger im Polarmeer war er zu Hause wie in den schwimmenden Riesenhotels zwischen Bremen und New York, am löwenumbrüllten Lagerfeuer wie in den Zopfpalästen kleiner deutscher Residenzen, deren Stillleben sein Besuch unterbrach. Er hatte mit den Fürsten der Wissenschaft zu Berlin, London und Paris die Probleme menschlicher Erkenntnis zu lösen gesucht und mit rauhen Berner Bergführern den neuen Aufstieg zum Gipfel des Cooksberges in Neuseeland beraten, er hatte in dem Orgelbrausen und der farbigen Nacht gotischer Dome, wie in der kahlen Halle der Moscheeen, in Synagogen und Pagoden, auf totenschädelgeschmückten Fetischplätzen und heiligen Bergen weiße und braune, rote, schwarze und gelbe Menschen zu ihrem Gotte beten und ihren Frieden, wie sie ihn wollten, erringen sehen. Nur an ihm selbst war der Friede stets vorbeigegangen. Er stand lockend, weit in der Ferne, wie jenes trügerische Spiegelbild der Dinge, jene Fata Morgana mit ihren verkehrt in der Luft schwimmenden Bäumen und Häusern, ihrem lockend zitternden Wasserspiegel, die er so oft, hoch wie auf einem Turm im schleudernden Sattel des Kamels kauernd, auf seinen Wüstenritten geschaut.

Jener Friede – jenes Gefühl der Ruhe, das er sich seit langer Zeit nicht mehr anders hatte denken können als im Besitze Angelas. Er war sich seit ihrer ersten Begegnung wie ein unvollständiger Mensch vorgekommen. Das Bruchstück, das ihm fehlte – das war sie. Sie gehörte zu ihm – sie war eigentlich ein und dasselbe wie er. Erst wenn sie sich ergänzten, waren sie wirklich da und lebten.

Gerade weil sie so ganz anders war wie andere Frauen. Deren puppenhaftes Gewirtschafte und Gethue, ihre thränenselige Weichheit, ihr spielendes Getändel zwischen Regen und Sonnenschein, mit Lachen und Weinen zu gleicher Zeit, hatten auf den harten Wüstenwanderer immer nur erst belustigend, dann langweilig gewirkt. Sie erschienen ihm, weil er sie nie näher kennenlernte und nicht wußte, wie viel und wie Großes aus einem liebenden Weibe werden kann, eigentlich fast wie Kinder. Ein ernster Mann konnte sie nicht ernsthaft nehmen und machte einen schlechten Tausch, wenn er sein rauhes, männliches Selbst für solch ein zartes Nichts hingab!

Angela war nicht so geartet. Sie bereicherte ihn. Sie war von seinem Stamm – kühl und stark. Und zuweilen war es ihm vorgekommen, als ob sie selbst das ebenso gut wisse wie er – als ob das befreiende Wort schon auf ihren Lippen läge. Aber gerade dann, wenn sie beide sich plötzlich schon im Schweigen verstanden und ein beklommenes Ahnen sie umfing – dann kam der Umschwung. Wie vom Winde verweht war sie auf einmal verschwunden und kein Lebenszeichen verriet dem Suchenden die Richtung ihrer Flucht.

Und wer da auch Stund’ um Stunde und Tag um Tag hinter ihr herzog, dem Trugbild kam er nicht näher! Das, was man ersehnt, läßt sich nicht erjagen und greifen, und wenn man auch die ganze Erde umkreist! Dort findet man es nicht. Was man so ferne wähnt, hat man vielleicht ganz nahe, hat man in sich! Man muß es nur sehen.

Das Glück? Vor acht Tagen noch hatte er drüben in der Wüstenstadt in dem Brief an Angela über das Glück in Schlafrock und Pantoffeln gespottet, mit dem blonden Etwas am Kaffeetisch gegenüber, und einem anderen zappelnden Etwas am Boden und der guten Stube ringsherum. Auch jetzt noch mußte er lächeln, wenn er sich in solcher Lage dachte. Aber es war ein nachdenkliches Lächeln und etwas Hoffnung und Neugier darin.

Es mußte doch schön sein, von allen Fahrten und Stürmen im stillen Hafen auszuruhen, eine Freundin neben sich, die einen versteht und bewundert, ein kleiner, dankbarer Wirkungskreis in Haus und Hof, am Schreibtisch und im Familienraum, nachdem man mit den großen Thaten abgeschlossen, ein friedliches Alter, dem sich in der lärmenden Kindheit neuer Generationen die eigene Jugend wieder erneut, ein stilles Lächeln am Schluß …

Seltsam! Es war ihm bisher nie in den Sinn gekommen, daß er sein Leben bis zum vollgemessenen Ende ausleben könne! Wie seine Berufsgenossen, die anderen großen Reisenden, war auch er jeden Augenblick auf den Tod gefaßt. Es erschien ihm selbstverständlich, daß er einmal unversehens in der Vollkraft seiner Jahre hingerafft würde, sei es unter Fieberschauern und dem Geheul der herumhockenden Träger im afrikanischen Urwald oder im Donner der Lawinen, dem Chaos des Seesturms – vielleicht hinterrücks durch Mörderfaust, vielleicht durch eigene

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