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gegeben. Sei es nun, daß er aus Widerspenstigkeit oder aus Leichtsinn die ihm verschriebenen Arzneimittel nicht gebraucht hat … die Geschichte hat eine bedenkliche Wendung genommen. Der Mann ist aufgebraucht, er hat schlechte Säfte, verdorbenes Blut, und dazu kommt noch, daß er, wie vorauszusehen war, jetzt, nach der ganz plötzlichen Entziehung des Alkohols, gänzlich niederbricht. Der künstliche Ansporn, der ihn immer noch gewaltsam in die Höhe riß, besteht nicht mehr; nun sinkt der Organismus in sich zusammen.“

„Und hat er in dieser Verfassung nun etwas gestanden?“

„Nichts. Er behauptet, zur Zeit des Mordes noch in Amerika gewesen zu sein. Er will dort von Ort zu Ort gegangen sein, sich nirgends lange aufgehalten und sein Geld in Columbia binnen zwei oder drei Abenden durch großes Glück im Spiel gewonnen haben. Zurückgekehrt nach Deutschland will er erst Ende März sein. Es handelt sich nun darum, etwaige Zeugen aufzutreiben, die ihn um die Mitte des Februar oder überhaupt nur innerhalb dieses Monats in Deutschland, vielleicht speziell in unserer Provinz, gesehen haben, oder darum, ihm ein unumwundenes Geständnis zu entreißen. Auf dies letztere macht sein Zustand in der That Hoffnung. Die Zerrüttung seines Körpers schwächt auch seinen Willen und seine Geistesverfassung. Zuweilen hat er sich schon in Widersprüche verwickelt, die er freilich selbst gleich hinterher entdeckte und gutzumachen trachtete … aber scharfe Kreuzverhöre ermüden und verwirren ihn leicht – und wer wollte es der Justiz verdenken, wenn sie sich einen solchen Umstand zunutze macht?“

„Hat er sich während seiner Haft jemals irgendwie über seinen Bruder geäußert?“ fragte Alix zögernd.

„Er weigert sich entschieden, ihn zu sehen, behauptet, das habe keinen Zweck; Ingenieur Harnack werde sich schämen, einen Bruder zu haben, der wegen eines Mordverdachtes in Untersuchungshaft sitze. Er möge nur ruhig fortfahren, Maschinen zu konstruieren und Berechnungen anzustellen, die den Kapitalisten das Geld scheffelweise zuführen.

Ich möchte nur wissen,“ fuhr Ueberweg nachdenklich mit zusammengezogenen Brauen fort, „weshalb Harnack, ich meine jetzt den Ingenieur, solchen Haß auf Hagedorn geworfen hat, um ihm gleich ans Leben zu gehen! Gut haben ja die beiden nie miteinander gestanden, wie die Direktoren der verschiedenen Mühlen einstimmig versichern – aber diese Antipathie muß doch einen bedenklichen Höhepunkt erreicht haben, wenn es bis zu einem Duell mit so scharfen Bedingungen kommen konnte. Ob es nur der Groll darüber war, daß Hagedorn der Justiz den Aufenthaltsort des jüngeren Harnack entdeckt hat, der den älteren Bruder zu seiner Herausforderung bestimmte?“

Alix verfärbte sich leicht und gab eine ausweichende Antwort. Sie glaubte die Ursache dieses verschärften Hasses zu durchschauen – sie durfte nur an den Blick zurückdenken, mit dem der Ingenieur damals den eintretenden Hagedorn gemessen hatte, als er mit ihm bei Alix zusammentraf. Harnack hatte ihm das Feld räumen müssen, er sah, mit dem Scharfblick der Eifersucht, einen Nebenbuhler in diesem neu entdeckten Vetter, und Alix’ Spazierritte und häufige Zusammenkünfte mit demselben waren ihm sicher nicht verborgen geblieben. Dazu nun noch Hagedorns „Denunziation“, wie der Ingenieur es nannte ... und das Maß war voll! –

„Ich kann es vor Gott und der Welt bezeugen,“ fuhr der Rechtsanwalt lebhaft fort, „wie schwer dem jungen Hagedorn das wurde, was er für seine Pflicht hielt und auch halten mußte: ich meine, dem Gericht die Anzeige von dem zu erstatten, was er in Stettin über den jüngeren Harnack vernommen hatte. Er hat sich gesträubt bis zuletzt, und ich bin überzeugt, hätte ich damals nur eine unvorsichtige, vorschnelle Aeußerung gethan oder wäre ich heftig in ihn gedrungen: er würde sich noch im entscheidenden Augenblick anders besonnen und die ganze Geschichte für sich behalten haben. Für all die Quälerei hat er jetzt zum Lohn eine Kugel zwischen die Rippen gejagt bekommen, so daß es zweifelhaft ist, ob er mit dem Leben davon kommt. Empörend!“

In diesem Augenblick sahen die beiden durch das geöffnete Fenster des kleinen Salons, das den Blick über die Ausfahrt gewährte, einen leichten, kleinen Einspännerwagen in vollem Trabe anfahren und vor dem Schloßportal halten.

„Doktor Petri!“ sagten beide wie aus einem Munde und erhoben sich gleichzeitig.

„Wenn Sie gestatten, liebe Alix, gehe ich mit Ihnen und warte ab, bis Petri mit seiner Krankenvisite fertig ist. Ich möchte auch gern wissen, wie es um den prächtigen Menschen steht, den ich förmlich ins Herz geschlossen habe.“

Das junge Mädchen nickte zustimmend, und ein warmer Blick ihrer schönen Augen fiel auf den Justizrat, als sie an seiner Seite das Zimmer verließ. – Der Arzt traf die Majorin oben an der Treppe und begab sich mit ihr zusammen in das Krankenzimmer. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder im Vestibül erschien, begleitet von dem alten Hagedorn, über dessen gutes Gesicht ein zaghafter Hoffnungsschimmer gebreitet lag.

„Herr Doktor?“ – Alix sah den Ausdruck in den Zügen des alten Mannes, es wollte heiß aufwallen in ihrem Herzen; doch unterdrückte sie diese Regung mit aller Macht. Sie wagte es noch nicht, zu hoffen! –

Doktor Petri reichte ihr die Hand und hielt ihre feine Rechte fest mit dem kräftigen Druck, der eine so gute Zuversicht giebt.

„Ich finde, wir haben einen kleinen Schritt zur Besserung in diesen letzten Stunden gethan,“ sagte er und nickte dem Justizrat zu, den er jetzt erst entdeckte, „freilich ist’s nur ein bescheidener, kleiner Schritt, aber man lernt, mit wenigem zufrieden sein! Ich hoffe, der Greifswalder Kollege wird meine Aussage bestätigen, denn mir allein glaubt ja der skeptische Papa nicht. Nein, nein, alter Herr, keine Widerrede! Sie glauben, ich mache Ihnen Wind vor, aber lassen Sie sich sagen“ – Doktor Petris lächelndes Gesicht wurde plötzlich ernst – „daß ich dies am Krankenbett für ein schweres Unrecht ansehen würde. Für den weiteren Verlauf kann ich nicht einstehen – die augenblickliche Besserung ist da!“

„Aber – aber,“ warf der alte Hagedorn verschüchtert dazwischen, „er hat niemand erkannt, als wir zuvor bei ihm im Zimmer waren! Und was hat er alles zusammengeredet: von weißen Damenkleidern, und von Moosrosen und blühenden Magnolien –“

„Na, das sind wenigstens angenehme Phantasien! Gönnen Sie die doch Ihrem Sohn!“

Aus Doktor Petris jovialem Ton und dem schelmisch zwinkernden Blick seiner Augen merkte Alix am deutlichsten, daß es besser mit dem Patienten stand – tief, tief und zitternd holte sie Atem. Hoffnung und Leben – hielten sie aufs neue ihren Einzug ins Josephsthaler Schloß?


23.

Voll gespannter Aufmerksamkeit hatte Alix den Brief überflogen, der ihr von James soeben überbracht worden war; jetzt steckte sie ihn in das Couvert zurück, ein seltsames Gemisch von Bestürzung und Freude war in ihr. Es war ihr unsagbar schwer geworden, an Steglhuber die Bitte zu richten, fortan mit offenen Karten zu spielen und den alten Herrn Hagedorn in das Geheimnis einzuweihen, das sie bisher über ihre Hilfe hatte gewahrt wissen wollen. Aber sie hatte sich überwunden, Maria zuliebe, die ihr so beschwörend geschrieben, und sie hatte das Gelübde gethan, diesen Schritt zu unternehmen, wenn Raimund Hagedorn genesen sollte.

Und jetzt war er so gut wie genesen.

Aber nun schrieb ihr Steglhuber, die Geschäfte gingen so flott, daß er gut imstande sei, aus eigenen Mitteln die verabredeten regelmäßigen Zahlungen zu leisten. Hatte es jetzt noch einen Sinn, dem alten Hagedorn, und durch ihn dem Sohn, ein Geständnis zu machen, das ihr so namenlos schwer geworden war und das doch nun vielleicht so aussah, als wolle sie den Dank einernten von Vater und Sohn – oder – oder – als … Sie konnte das „oder“ nicht zu Ende denken, der Herzschlag setzte ihr darüber aus.

Sie sprang empor: wenn sie noch versuchte, es rückgängig zu machen, wenn sie depeschierte: „Brief nicht absenden. Noch warten!“ – Doch hieß es nicht in Steglhubers Schreiben: „Noch in dieser Stunde teile ich dem alten Herrn Hagedorn den wahren Sachverhalt mit.“ Und dieser wollte in einer knappen Stunde nach Greifswald fahren, um seine Miete zu bezahlen und sich einige Sachen zu holen! Der Brief würde nach Greifswald gerichtet sein; der alte Herr würde ihn also noch heute erhalten!

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