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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

seefahrenden Staaten bis in die Mitte des Jahrhunderts Tribut zahlen mußten. Es ist sicher anzunehmen, daß ein Unglück passiert. Aber reden Sie einmal mit meiner Tochter und deren Freunden! Meine Hoffnung ist, daß es morgen in Strömen gießen wird. Aber Sie sehen mich trotzdem wirklich bekümmert,“ er warf einen zerstreuten Blick auf ein vor ihm liegendes Kabeltelegramm, „… diese ewigen tollen Streiche machen mich nervös. Nachher wollen sie wieder führerlos auf den Montblanc, infolge einer Wette. Und ich liege hier einsam und verlassen.“

„Ich hätte ruhig noch zwei Tage in Tanger bleiben können,“, fuhr er fort, während ein schwarzgalonnierter Diener lautlos eintrat und ein zweites Gedeck auflegte. „Dort besuchte mich mein Freund, der alte Sir Roß von der Admiralität …. Sie wissen, der Tigertöter. Flitzte einfach mit einem Torpedoboot Ihrer Majestät in fünfviertel Stunden die ganze Meerenge lang, kam tropfnaß an und war närrischer als je. Ja, den habe ich nun auch im Stich lassen müssen. Nun, wenigstens finde ich jetzt Zeit, meine Geschäfte zu erledigen. Sie wissen doch … oder vielmehr, Sie können es nicht wissen, daß wir wieder einen Weltring anstreben. Das Petroleum soll viel, viel teurer werden auf der ganzen Erde!“

„Ein löblicher Vorsatz, Nikolai Gawrilowitsch!“

„Ja, es ist schlimm!“ Der alte Deutschrusse senkte den Kopf, daß die strohblonde Knabenperücke im Kerzenlicht glänzte. „Diese Ausbeutung des Volkes ist ein Verbrechen. Und leider sind wir stärker als das Gesetz. Es bietet keine Handhabe gegen uns!“

„Und das sagen Sie?“

„Glauben Sie mir, lieber Freund!“ Der Petroleumkönig hob langsam das sorgengefurchte Antlitz. „Wenn ich nicht Nikolai Augustus Rey wäre – einer der großen Leute in Baku und der großen Millionäre in Petersburg – ich würde auf der Stelle ein Sozialist. Gegen Leute wie uns haben diese Gegner des Bestehenden vollkommen recht. Wir sind Blutegel am lebendigen Organismus. Wir sind Feinde der Menschheit. Wir gehörten ausgerottet zu werden!“

Der Gast schwieg.

„Ausgerottet!“ wiederholte Nikolai Rey und schaute gramvoll in dem Prunkraum umher. „Jeder Zoll an dieser Jacht ist unrecht erworbenes Gut. Aber was soll ich machen? Soll ich allein den Weltlauf ändern? Das kann ich nicht. Also muß ich meinen Gang gehen und weiter Trusts bilden. Der prächtige alte Sir William hat mich gestern noch bei seiner zweiten Flasche 1811er Portweins getröstet! Er sagte: ,Der Tiger ist dazu da, um zu reißen, und das Schaf, um gerissen zu werden. Beide können nichts dafür. Also zerreißen auch Sie weiter die kleinen Leute. Dazu hat Sie die Natur nun einmal bestimmt!‘ Das traf den Nagel auf den Kopf. Sie kommen ja auch aus der Wildnis: können Sie mir nicht auch solch einen Kernspruch sagen?“

„Ich glaube, Sie brauchen gar keine Tröstung,“ meinte der Afrikaner gelassen. „Sie fühlen sich ganz wohl in Ihrer Haut.“

„Nein!“ Nikolai Rey schüttelte kummervoll das Haupt. „Es geht mir wirklich nahe, namentlich an so einsamen Abenden wie heute und wenn das Schiff schwankt, was ich nicht leiden kann. Jetzt habe ich mich wieder verleiten lassen, eine große Spekulation in Weizen zu unternehmen. Und natürlich glückt es auch wie immer und ich gewinne eine Menge Geld. Aber nun versetzen Sie sich, bitte, in die Lage eines Menschen, der sich über jede Hungersnot freuen muß! Der sich die Hände reibt, wenn er von Epidemien der Eingeborenen in Indien hört, oder von Wolkenbrüchen in Ungarn oder von Trockenheit und allgemeiner Not in Argentinien. Ich versichere Sie, solch ein Mensch ist übel dran. Besonders, wie gesagt, bei rauher See, wenn man nicht in Ruhe essen kann!“

Er legte seinem Gast einen gebratenen Ortolan auf den Teller und lehnte sich nachdenklich zurück. „Ich hoffe ja, daß es eine allgemeine Mißernte auf der Welt giebt,“ murmelte er. „Ja, ich habe Grund, es als positiv anzunehmen, besonders bei uns in Rußland. Da wird eine Masse Menschen Hungers sterben und ich gewinne. Glauben Sie mir, das thut weh! Nur anderseits sage ich mir eben: wenn du nicht spekulierst, wächst kein Halm Getreide mehr und wird kein Mund mehr satt. Warum sollen also nicht wenigstens einige Bevorzugte auch aus dem Unglück Geld machen, da sie es ja doch nicht zurückhalten und ändern können? Schließlich habe ich die Welt nicht geschaffen und muß jede Verantwortung dafür ablehnen, wie es auf ihr zugeht!“

Er verstummte. Sein Gast sah ihn mit unbehaglicher Neugier an. Wie beim Betreten des Schiffes hatte er jetzt wieder die Empfindung einer verzauberten Welt, in der alles anders war als da draußen, die Gefühle, die Gedanken, die Menschen.

Dieser kleine Mann ihm gegenüber mit dem klugen, faltigen Knabengesicht und den grauen, eiskalten Augen kam ihm, wie er im Schaukeln des Schiffes bald mit seiner Tischkante über ihn stieg, bald wieder von ihm weg nach hinten sank, wie ein seltsames, unbeseeltes Wesen vor, aus dem befremdend eine menschliche Stimme tönte. Die See draußen mußte gröber geworden sein. Alle Dinge im Zimmer schwangen und klirrten in wiegender Bewegung, wie im Raume eines Hexenmeisters das leblose Gerät gespenstisch in den Winkeln spukt und kichert. Jenseit der Holzwände gurgelte es und klatschte in schwerem Wogenprall und immer rascher schwankte das Speisegemach mit dem lächelnden, rittlings auf einem Stuhl sitzenden Hausherrn.

Der war schon wieder in bester Stimmung. „Ich habe zuweilen solche Anwandlungen!“ sagte er und seinem Zuhörer fiel es wieder ein, daß Nikolai Rey bekanntermaßen außerstande war, von etwas anderem als von sich selbst zu sprechen, und daher selten Gelegenheit fand, seinen Redestrom ungehemmt zu ergießen. „Ich habe aber zum Glück auch eine robuste Gesundheit, körperlich und geistig. Es geht mir nicht leicht etwas nahe! Nicht, daß ich es von mir hielte – etwa mit einer großartigen Handbewegung aller menschlichen Not und Sorge abwinkte – im Gegenteil, meine Wohlthätigkeit ist verschwenderisch und das will in Petersburg und Moskau wirklich was heißen! Aber es packt mich nicht! Ich bleibe so angenehm kühl, gewissermaßen in einer wohlwollenden Neutralität dem Kampf ums Dasein gegenüber. Es ist wirklich ganz amüsant, ihn sozusagen von der Loge aus anzusehen wie ich hier von meiner Jacht!

Früher habe ich mich manchmal über meine Empfindungslosigkeit geängstigt. Mir gesagt: das ist doch nicht normal. Aber nun sehe ich, daß meine Tochter gerade so ist! Ganz genau so! Das tröstet mich. Auf irgend eine Weise erlebt man eben immer Freude an seinen Kindern!“

Der Gast erhob sich. Es ward ihm schwül und beklommen. Es drängte ihn hinaus aus dieser schwimmenden Raubritterburg des 19. Jahrhunderts und fort von ihrem unermüdlich und mit spitzbübischem Lächeln plaudernden Schloßherrn, der offenbar sich selbst als das einzig wichtige und zugleich noch ungelöste Problem des Weltalls erschien.

„Grüßen Sie, bitte, Ihre Tochter,“ sagte er, „und haben Sie Dank! Ich gehe jetzt an Land!“

„Schön!“ Trotz seines freudigen Empfanges und seines Mitteilungsdranges fiel es dem Petroleumkönig nicht ein, einen Menschen, der gehen wollte, zurückzuhalten. „Ich werde Angela Ihr enttäuschtes Gesicht schildern. Kommen Sie morgen wieder?“

„Nein. Ich reise.“

„Und wo trifft man Sie denn einmal wieder in irgend einem Winkel der Welt?“

„Ich weiß noch nicht. Vielleicht … habe ich ein paar Tage in Genf zu thun!“

„Da sind wir uns ja ganz nahe! Ich erzählte Ihnen ja von den Montblanc-Plänen. Da ich Gesellschaft liebe, muß ich meine Jacht in Marseille lassen und mit nach Chamounix. Von da nach Genf ist’s ja nur ein Katzensprung.“

„Ich glaube, wir werden uns trotzdem nicht sehen!“

Das bübische Lächeln erschien stärker als je auf dem Gesicht des unheimlichen Hausherrn, der, knabenhaft klein und schmächtig, neben dem straffgewachsenen Afrikaner auf das Verdeck trat. „Das sollen Sie neulich in Tetuan auch erklärt haben,“ sagte er kichernd, „und sind doch schon wieder mein lieber Gast! Sie kommen immer wieder zu uns zurück, zu mir und meiner Tochter. Sie müssen, scheint mir! Auf Wiedersehen am Montblanc. Da will ich schon dafür sorgen, daß Ihnen Angela nicht wieder entrinnt!“ (Fortsetzung folgt.)     

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0750.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2023)