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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Er konnte es ja beweisen und in Tanger bleiben! Der Trotz erwachte in ihm, während er gleichwohl schneller und immer schneller der Stadt zuschritt. Denn fast unbewußt hatten seine Augen ihn belehrt, daß der auf der Reede schaukelnde, von der Nußschalenflottille umwimmelte Dampfer schon zur Abfahrt bereit war, und ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er sich in seiner Zeitberechnung um zwei Stunden geirrt hatte.

Es war schon fast zu spät, den Dampfer zu erreichen, und jedenfalls unmöglich, mitzufahren. Denn sein Gepäck befand sich ja oben im Hotel und seine Rechnung war noch nicht bezahlt. Das Einzige, was er thun konnte, war, rasch an Bord zu gehen und den Damen Adieu zu sagen, und das war ja auch das Beste!

Aber so leicht ließ sich das Schiff nicht erreichen. Erst ein Wortwechsel mit den an der Landungsbrücke gescharten, in greulichem Mohrenenglisch um den Fahrpreis feilschenden Bootsleuten, dann eine Schaukelfahrt quer über die Reede und endlich ein hoffnungsloses Durcheinander der um den Leib des Dampfers auf den Wellen tanzenden und mit ihnen unter dem betäubenden Zankgeschrei der Insassen abwechselnd hoch in die Höhe steigenden und wieder in den Wogenthälern versinkenden Kahnflottille! Das Passagierboot selbst rollte dabei an dem sich straffenden Anker schwer von einer Seite zur andern und tauchte bald sein Fallreep tief in die klatschende Flut, bald wieder hob es die Schiffstreppe unerreichbar hoch über das Gewühl der Nußschalen empor. Es war eigentlich ein Wunder, wie die Cooksche Karawane hatte ungefährdet das Oberdeck erreichen können.

Aber mit Hilfe kräftiger Matrosenfäuste, die die Touristen wie Warenballen von Hand zu Hand hinaufbeförderten, war es doch geglückt und alle Schutzbefohlenen von Cook und Sohn in unbeschreiblicher Verfassung auf dem ersten Platz vereinigt. Die Seekrankheit wütete bereits in dem ganzen Schwarm der Vergnügungsreisenden. Denn ein plötzlicher Defekt an der Maschine verhinderte auf Stunden hinaus die Abfahrt, während das festliegende Schiff stärker schaukelte und stampfte, als wenn es in voller Fahrt gewesen wäre. Alte Damen und bleichsüchtige Backfische, hagere Reverends und weinende Kinder füllten, in Plaids und Mäntel bis zu unkenntlichen, stöhnenden Klumpen eingewickelt, das ganze Deck. Sie saßen, hoffnungslos lächelnd, auf dem Boden und lagen schweigsam auf den Seitenbänken ausgestreckt, ihr Röcheln drang aus den unteren, in unbeschreiblichem Zustand befindlichen Kabinen, ja manche hatten sich schutzsuchend bis in den Vorderraum verirrt, wo eine Anzahl Mauren unbeweglich, mit gekreuzten Beinen auf den Planken kauernd und halbzugekniffenen Auges ihre Geschäfte in Gibraltar überlegend, dem Spiel der Wellen trotzte.

Auch der Afrikaner war – das wußte er aus vielen früheren Reisen gegen die Seekrankheit beinahe völlig gefeit. Aber unbehaglich war ihm der Aufenthalt auf dem Vergnügungsschiff doch und er strebte, in der Runde nach den bekannten Gesichtern blickend, ihn möglichst abzukürzen.

„Jräßlich!“ stöhnte es neben ihm. „Jräßlich! Nicht zu sagen!“ Da saß der Major, ganz geknickt und vornübergesunken, daß die grauen Schnurrbartenden trostlos herabhingen. Neben ihm, ihn tröstend und stützend, die düstere Gestalt der Gouvernante, die schwarzgekleidet, aufrecht und mit harten Zügen wie die Göttin der Seekrankheit unter ihren Opfern thronte. In dem schweigsamen Bündel von Decken daneben ließ sich die Kleine vermuten, die, gefaßt auf diese neue Wendung ihrer Erholungsreise, gottergeben dalag.

Die blonde Malerin saß etwas abseits. Auch ihr hübsches Gesicht war bleich. Aber sie lächelte dem Freunde tapfer zu. „Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen!“ rief sie. „Ich fürchtete schon, Sie würden die Abfahrt versäumen!“

Er sah sie erstaunt an. Sie schien gar keine Ahnung zu haben, daß er gar nicht an die Abfahrt dachte.

„Aber Ihr Gepäck ist schon da!“ fuhr sie eifrig fort. „Man hat es vom Hotel aus besorgt. Und da ist auch der Hotelkurier mit der Rechnung!“

„Wie kommt denn der Mann dazu?“

Sie blickte betroffen auf. „Ich weiß nicht. Ich hab’ mich nicht hineingemischt. Die Leute im Hotel sagten, Sie würden auch reisen!“

In der That, da lagen, sich scharf von den üblichen Gepäckstücken ringsum abhebend, seine bunt bestickte und mit Lederschnüren verzierte Reittasche aus Maroquin, wie man sie im Innern Marokkos trägt, und daneben die Maultierlast mit seinen Habseligkeiten, zwei von dem scharlachroten Tuch der Eingeborenen umhüllte Walzen.

„Wer zum Teufel hat Ihnen denn gesagt, daß ich reise?“ frug er den Kurier halblaut, so daß es Klara nicht hören konnte.

Der bräunliche Elegant lächelte. Die Ladies hätten gesagt, sie wollten zum Steamer. Und da der Herr doch zu den Ladies gehöre und sie nicht allein würde fahren lassen ....

Genug! Er winkte ihm, zu schweigen, und bezahlte. Eigentlich hatte der Mann ja ganz recht: wenn jemand mit drei Damen ankommt, so reist er gemeinhin auch mit ihnen weiter. Jetzt wieder mit Sack und Pack den Dampfer verlassen, das ging nicht an. Es hätte der Malerin, die blaß und ahnungslos dasaß, zu weh gethan. Er lachte ärgerlich und trat wieder zu ihr. „Ein netter Aufenthalt!“ sagte er. „Der Menschheit ganzer Jammer packt einen an. Der Katzenjammer natürlich. Das ist nun der Herr der Schöpfung – diese Pakete da in allen Winkeln!“

Sie sah zu ihm auf. „Werden Sie denn nicht seekrank?“ frug sie mit schwacher Stimme.

„Nein. Und Sie?“

„Ach, ich bin’s schon! Mir ist schrecklich zu Mute!“

„Dann legen Sie sich beizeiten hin,“ befahl er und machte ihr, ohne eine Antwort abzuwarten, ein Lager zurecht. „Besser wird’s doch nicht, ehe Sie nicht wieder festen Boden unter den Füßen haben. Also wozu sich unnütz quälen?“

Sie gehorchte mit einem geduldigen Lächeln ihrer blassen Lippen und ließ sich fügsam von ihm zudecken. Dann schloß sie ermattet die Augen. Er war nun ganz sich selbst überlassen.

Er schaute umher. Das Bild wurde immer trostloser. Der Major war jetzt ganz abgefallen, um ihn herum lagen die anderen Opfer der See, und dazwischen saß düster die schwarze Rachegöttin. Aber auch ihre Zeit schien zu kommen, nach dem gelblichen Ton zu schließen, der allmählich ihr Antlitz überzog.

Und nirgends ein Eckchen, ein Winkel, um dem Greuel zu entfliehen! Wenn er nun doch das Schiff verließ? Aber da, weit am Ufer, tanzte schon sein Boot auf den Wellen und überhaupt … Nein. Nun war er gefangen!

Gefangen in diesem dichtgefüllten, schwimmenden Philisterkäfig. Er wickelte sich zornig in seinen Mantel und trat ganz nach vorne, an die Ankerwinde des Dampfers.

Zu thöricht! Das kam davon, daß er sich in das Spiel eingelassen. Nun hielt es ihn fest mit der Tücke des Zufalls und fester noch da innen. Er fühlte es wohl, daß er, in Tanger zurückgeblieben, mehr Reue empfunden hätte als jetzt Aerger über die unselige Fahrt. Oder vielmehr über das Stillliegen auf der Reede. Denn eine Stunde verstrich und eine zweite, ohne daß sich der Anker hob. Von unten, aus dem Maschinenraum, tönten Hammerschläge und zorniges Stimmengewirr.

Er ging wieder zurück, um nach Klara zu sehen, und berührte leicht ihre schlaff herabhängende Hand. Sie öffnete die Augen. „Gott sei Dank!“ hauchte sie. „Sind wir in Gibraltar?“

„Nein. Wir liegen immer noch vor Tanger!“

Da drehte sie sich mit einem ganz verzweifelten Ruck herum, und er sah nur noch ihr blondes Haar durch die Lücken des Mantels schimmern. Mißmutig kehrte er auf seinen Platz neben der Winde zurück, die jetzt, von zwei Matrosen gedreht, die triefende Kette aufnahm und den Anker schlammüberzogen an das Tageslicht beförderte. Die Maschine begann zu arbeiten und trieb das Schiff in die schwere Dünung hinaus, die auch bei ruhigem Wetter stets hier in dem Zusammenfluß des Atlantischen Oceans und des Mittelmeers zwischen den Säulen des Herkules zu stehen pflegt, zwischen dem leuchtturmgekrönten Kap Spartel in Afrika und der Punta Marroqui gegenüber, der Südspitze Europas, wo als ein Haufe weißer Pünktchen Tarifa, einst das letzte Maurenbollwerk in Europa, herüberschimmert.

Wenige Reisende sahen die Pracht dieser blauen Wasserstraße zwischen der niederen Küste Andalusiens und den hochgezackten, dräuenden Felsen des Rif. Die andern lagen klagend da, mochte die Sonne noch so golden Land und Meer verklären und die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0747.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)