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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

will ihr etwas Bewegung verschaffen. Allez, toll’ dich aus!“

Das läßt sich die arabische Schimmelstute nicht zweimal gesagt sein; sie macht noch ein paar verwegene Kapriolen, die ihr einen leichten Peitschenhieb eintragen – jetzt, wie der Pfeil von der Sehne, ist sie davon, sie soll und sie will „sich austollen“. Gestreckte Carriere! In Gottes Namen!

Schon rückt die dunkle Linie des Waldes näher – jetzt ein Stück Landstraße, breit, gut gehalten und ganz unbelebt. Wiederum freier Weg – wie wonnig! Der Graben, der hinüberführt, ist nur ein Kinderspiel. Alix hebt sich ein wenig im Sattel, die Peitsche ist unnütz! „Primrose“ weiß ganz genau, was man von ihr erwartet, sie streckt sich und trägt die Reiterin im Flug hinüber. Alix muß an Raimund und seine Rennen denken. Ob er zufrieden mit ihr wäre, wenn er sie jetzt sähe?

Aufatmend hält sie endlich still am Saume des Waldes, der morgenkühl, mit tiefen bläulichen Schatten überspielt, vor ihr liegt. Sie wendet sich im Sattel und blickt nach dem Groom, der dort hinten am Horizont wie ein Pünktchen erscheint. Ja, ja, der Hellbraune ist ein ganz wackeres Tier, aber mit ihrem Vollblut hält er den Vergleich nicht aus.

„Sehr schön gegangen, ,Primrose‘, sehr schön!“ Alix klopft den schlanken, glatten Hals, beugt sich zu „Rebell“ nieder, der sich eifersüchtig herandrängt: „Und du auch – ja, du auch! Ihr seid beide brav – ich kann stolz sein auf euch!“

Jetzt kann der Groom sie schon erkennen – er soll nur wissen, wo sie bleibt. Alix liebt es nicht, wenn er ihr auf dem Fuß folgt, und das weiß er auch gut genug; wenn er nur die Richtung kennt, welche die Baroneß genommen hat, und ihrem etwaigen Ruf erreichbar ist!

Langsam reitet Alix unter den hier dichtgedrängt stehenden Bäumen hin. Die Schimmelstute hebt vorsichtig die zierlichen Hufe; der Boden ist weich von vermodertem Laube, das hier seit Jahren lagert und dicke Schichten gebildet hat. Niederhängende Tannenzweige bedrohen Alix’ Gesicht und greifen nach ihrem Hut. Altersschwache Fichten mit langen, eisgrauen Bärten von wirrem Moosgeflecht neigen sich vornüber, als drohten sie jeden Augenblick zu stürzen, knorrige Eichen stehen dazwischen. Am Stamme der einen, dicht vor Alix, läuft ein Eichkätzchen blitzgeschwind empor, bleibt in gesicherter Höhe hängen, die rotbraunen, haarigen Pfötchen um einen Ast geklammert, und blickt neugierig auf die fremden Eindringlinge nieder. Das junge Mädchen sieht deutlich seine schwarzen Aeuglein von spöttischer Freude glänzen. Husch! Da ist es im Wipfel!

Weiter, „Primrose“, – es muß sich doch zuletzt ein wenig lichten!

Sehr allmählich geschieht das! Hier muß selten oder nie ein Mensch gehen, es ist ganz, ganz einsam, und das Laubholz, das nun wieder vorherrscht, bildet ein Dach, so dicht, daß man kaum den Himmel durchleuchten sieht und den Raubvogel, der droben im Aether seine Kreise zieht und seinen schrillen Schrei ausstößt, nicht entdecken kann. Ein Kuckuck ruft ganz in der Nähe unermüdlich, und träumerisch klingt es im stillen Wald!

Ein Rascheln in den Büschen – näher – ganz nahe – sieh da, ein kleiner Junge, neunjährig etwa, barfüßig, mit Hemd, kurzer Hose und grauem Tragband angethan, einen weißen Spankorb in der braunen Hand, kommt zwischen den Haselnußsträuchern zum Vorschein, und sein Gesicht will Alix bekannt erscheinen. Er fährt zusammen, als er Roß und Reiterin und Hund, die lautlos herangekommen sind, plötzlich vor sich sieht. Der Schreck geht ihm so in die Glieder, daß ihm sein Körbchen, das halb voll Erdbeeren ist, aus der Hand fällt, die Augen sich angstvoll weiten und das kleine gebräunte Gesicht ganz fahl wird.

„Erschrick doch nicht so, Junge!“ sagt Alix freundlich und nickt ihm zu. „Es ist ja nichts Böses, daß du Erdbeeren im Wald gesammelt hast, und zur Schule kommst du doch noch zeitig genug; es ist noch früh! Kennst du mich? Weißt du, wer ich bin?“

Es brauchte Zeit, bis er die Frage verstand. Endlich nickte er.

„Nun? Wie heiß’ ich denn?“

„Die gnä’ – die gnä’ Baroneß vom – vom Schloß!“

„Nun also! Ist das etwas so Schreckliches? Bist du nicht auch bei meinem Kinderfest dabei gewesen?“

Ein heftiges Nicken, aber immer noch dieser verstörte Blick.

„Wie heißest du?“

„Paul – Paul Semmling!“

„Aha!“ Alix weiß nun, warum ihr just dieser Junge so bekannt erscheint. Das ist derselbe Schlingel, den damals Raimund Hagedorn dicht vor seinem Zweirad vom Weg aufgehoben und so derb am Kragen zurechtgeschüttelt hat! Mit einem ganz neuen Interesse sieht das junge Mädchen in das verzagte, braune Kindergesicht. „Ich thu’ dir wirklich nichts, Junge!“ redet sie ihm zu. „Heb’ dein Körbchen auf und lauf’, wenn du willst. Hast du vielleicht Angst vor meinem Pferd oder vor dem Hund? Du schüttelst den Kopf. Ja, vor wem in aller Welt fürchtest du dich sonst so sehr? Doch nicht vor mir?“

„N – – nein!“ ermannt sich Paul Semmling endlich, hervorzustottern. „Vor Baroneß fürcht’ ich mich gar nich!“

„Schön! Sehr lobenswert! Aber du siehst ganz erschrocken aus, ich sehe es ja! Was hat denn das zu bedeuten?“

Der Junge schaut aus seinen runden, weitoffenen Augen wiederum hilflos zu ihr auf, ehe er antwortet.

„Da – dort – haben zwei auf sich geschossen!“ sagt er endlich. „Und das hab’ ich gesehen!“

Was hast du gesehen?“ ruft Alix so heftig, daß „Primrose“ unruhig wird und „Rebell“ zu knurren beginnt.

„Zwei – zwei – von unsern Herren – hier – hier im Wald – und noch ’n paar andere waren ’bei. Und die schossen auf sich – mit – mit zwei solche Pistolen, und das hab’ ich gesehen und hab’ es gehört, wie ich – wie ich Erdbeeren holen ging aus ’m Schlag, wo die Kesseltannen sind.“

Alix zügelt ihr Pferd mit ungeduldiger Hand und ruft „Rebell“ ein herrisches „Ruhig!“ zu, dann sagt sie mit stockender Stimme: „Weißt du, Junge, wer die Herren gewesen sind, die da – die mit Pistolen geschossen haben? Kennst du sie bei Namen?“

„Ja!“ sagt Paul Semmling ohne Zögern. „Kennen thu’ ich sie alle beide. Und der eine von ihnen, wie zum zweitenmal würd’ geschossen – der eine von ihnen, der fiel um!“

„Und wer war das?“ fragt Alix mit Anstrengung.

„Das ist der Herr Hagedorn gewesen, wo früher bei der Schneidemühl’ war und ist jetzt bei der Oelmühl’ – und ich kenn’ ihn – und er hat mir manchmal was gegeben. Und der fiel um – aber der andere blieb ganz steif stehen!“

„Wer – wer war der andere?“

„Der Herr Oberingenienr Harnack.“

Eine Pause. Durch die Zweige der Buchen und Ahornbäume rieselt das Sonnengold, kein Wind bebt in den Zweigen: es ist, als hielte der schöne grüne Wald in Schrecken den Atem an. In die tiefe Stille hinein tönt plötzlich der Ruf des Kuckucks, ganz nahe und so dringend, wie wenn er warnen wollte.

„Ist es weit von hier?“ fragt Alix tonlos.

Der Junge zeigt mit der Hand rückwärts in den Wald hinein, als ob damit alles gesagt sei.

„Ob es weit von hier entfernt ist, will ich wissen!“

„Wo die Kesseltannen sind.“

Sie zieht zornig die Brauen zusammen und schwingt sich gewandt vom Sattel. Die Schimmelstute am Zügel haltend, späht sie angestrengt den Weg zurück, den sie gekommen ist. Es schimmert etwas zwischen den Bäumen in ziemlicher Entfernung.

„Tommy!“ ruft sie laut in den Wald hinein.

„Gnädige Baroneß!“ klingt es schwach zurück.

„Hierher!“

Das Etwas zwischen den Tannen und Buchen dort hinten bewegt sich, wird deutlicher, kommt näher. Mit der Gewandtheit einer Schlange windet sich der Groom, der den Lichtbraunen meisterlich lenkt, durch das Dickicht vorwärts. Jetzt ist er gleich heran.

„Absitzen, Tommy, und ,Primrose‘ und Ihr Pferd langsam mir nachführen – immer so, daß Sie mich sehen können …. und warten, bis ich rufe!“

„Zu Befehl, gnä’ Baroneß!“

„Komm’ jetzt, Junge!“

Paul Semmling in seinem primitiven Anzug, mit den nackten Füßen, gleitet aalglatt voran – Alix rafft mit der einen Hand ihr Reitkleid, das fortwährend vom Gestrüpp festgehalten wird, und hält mit der andern den Hund, der ungeduldig vorwärtsstürzen will, am Halsband. Sie setzt zum Reden an – wagt es noch nicht – findet die Worte nicht – zuletzt doch:

„War denn kein Arzt zur Stelle?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0735.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2023)