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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

in den unteren Teil des Tunnels zurückzieht, mit Dynamit gefüllt. Bis dann die Explosion erfolgt, der Rauch hinausgejagt, der Schutt weggeräumt ist, vergehen etliche Stunden, so daß der tägliche Fortschritt 4, höchstens 5 Meter wird betragen können. Etwas über 500 Meter war man damals vorgedrungen. Als Andenken an diesen Aufenthalt im Berginnern liegt ein graues, von weißen Adern durchzogenes Stück Kalk vor mir, das, seit die erkaltende Erdrinde sich zu Gebirgen wölbte, jetzt zum erstenmal aus seiner vieltausendjährigen Ruhe aufgeschreckt worden war.

Als wir ans blendende Tageslicht zurückkehrten, hatte sich nicht weit vom Tunneleingang eine andächtige Gemeinde versammelt. Auf der unteren Hälfte einer sanft ansteigenden Rasenhalde, die sich an die Felsen des Eiger-Rotstocks anlehnt, standen und lagerten die von nah und fern herzugeströmten Männer entblößten Hauptes. Auf der oberen Hälfte war durch coulissenartig vorgebaute Steinhaufen, zwischen denen langbärtige Gnomen ihr Wesen trieben, ein Raum für Rede und Schauspiel abgegrenzt. Feierlich schwebten die Klänge des von einem Orchester gespielten „Nun danket alle Gott!“ durch die Lüfte, und dann hielt der bekannte „Gletscherpfarrer“ von Grindelwald, Gottfried Strasser, eine Bergpredigt, die in meisterhafter Weise der Bedeutung des Tages gerecht wurde und darin gipfelte, daß das Streben zur Jungfrauhöhe nicht Gott versuchen, sondern Gott suchen bedeute.

Dem nun einsetzenden Männerchor „Das ist der Tag des Herrn“ folgte ein heiteres Spiel des Züricher Dichters Leonhard Steiner. Eiger, Mönch und Jungfrau, dargestellt von zwei Söhnen Guyers und einer Tochter seines ersten Mitarbeiters, Wrubel, traten auf und einigten sich nach harter Gegenrede des Eigers dahin, daß auch sie die Jungfraubahn begrüßen. Die Jungfrau aber wendet sich zu den Gästen:

„So heiß’ ich heute denn euch schon willkommen
Nah’ des krystall’nen Doms erhab’nen Zinnen,
Wo ringsum vor den schönheitstrunk’nen Blicken
Schimmernde Silberhöh’n, smaragd’ne Tiefen
Vermählen ihrer Reize Pracht und Glanz
Zum Festkleid der erhabenen Natur.“

Wieder ein Lied – „Trittst im Morgenrot daher!“ – und dieser Teil der Feier war zu Ende. Schon schallten von einer tiefer gelegenen Terrasse die Gesänge der italienischen Arbeiter herauf, die bei dem ihnen gespendeten Weine ihren „padrone“ leben ließen. Durch den wieder dichter heranwallenden Nebel fuhr und stieg die Menschenmenge zu dem Scheidegghotel hinab, wo ihrer ein lecker bereitetes Mahl harrte. Daß sich dort eine überaus fröhliche Feststimmung entwickelte, wobei deutsche, französische und englische Reden gehalten wurden, bedarf nicht der Versicherung. Nur eines der dort gesprochenen Worte sei hier wiederholt, das Wort Guyers: „Auf Wiedersehen bei der Vollendung der Jungfraubahn im Jahre 1904!“ Die Zahl derer, welche die Ausführung des Riesenwerks für einen Traum halten, ist am 19. September 1898 bedeutend zusammengeschrumpft. Wer den Mann und sein Werk gesehen hat, wird von seinem Glauben, der „Berge versetzt und Berge durchbohrt“, angesteckt. „Nüd nahlah g’winnt!“ („Nicht nachlassen gewinnt!“) sagt ein alter Berner Wahrspruch. Alex. Francke.     


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Schloß Josephsthal.
Roman von Marie Bernhard.

 (8. Fortsetzung.)

19.

In der Kolonie Josephsthal ging alles im gewohnten Gleise, und die Erinnerung an den geheimnisvollen Mord fing nach und nach an, zu verblassen, wenn auch ab und zu jemand die Frage aufwarf: „Aber wer kann es denn gethan haben?“

Da schwirrte plötzlich ein Gerücht umher, wie durch die Luft kam es geflogen: die Justiz habe eine neue Spur des im Februar verübten Verbrechens entdeckt und sei mit allem Eifer dabei, dieselbe zu verfolgen. Zugleich verschwand der Arbeiter Neubert, der schon zweimal Urlaub erbeten und erhalten hatte, um seine in Mecklenburg wohnende kranke Mutter zu besuchen, von neuem ganz plötzlich und ließ tagelang nichts von sich hören.

Ob da nicht etwas dahinter steckte? Grüblerische Köpfe – und es gab auch solche in der Arbeiterkolonie Josephsthal – fingen an, über diesen Neubert nachzudenken. Ein fideler Kumpan war er gewesen, ein Spaßvogel, wie die Kolonie noch nie einen aufzuweisen gehabt hatte. Sie hatten ihn eigentlich alle gut leiden können, die Kameraden, den fixen kleinen Kerl mit dem bartlosen Knabengesicht und der pfiffig treuherzigen Miene, der sie so gut zu unterhalten verstand. Aber, wie der „Berliner“ zu reden wußte, so wußte er auch andere zum Reden zu bringen und dann sehr aufmerksam zuzuhören. Am häufigsten hatte er das Gespräch auf den verstorbenen Baron gelenkt; wer zu dessen nächster Umgebung gehört hätte, mit wem er wohl am vertrautesten gewesen sei, wer denn die Drohbriefe geschrieben haben könne, und wer das wohl in Erfahrung gebracht haben möge, daß der Baron gerade an jenem achtzehnten Februar eine so große Geldsumme bei sich gehabt habe, um sie an einen der Direktoren auszuzahlen – diese Fragen hatte er immer wieder aufs neue aufgeworfen. Auch für den Monteur Kraßna hatte er besonderes Interesse gezeigt, der für eine kurze Zeit in der Kolonie Josephsthal gearbeitet hatte, bis ihn Baron Hofmann wegen seiner aufreizenden Wühlereien entließ. Die Gefragten hatten nur selten bestimmt zu antworten gewußt, aber sie hatten ihre Mutmaßungen gehabt, der eine diese, der andere jene. Der „Berliner“ hatte da ganz besonders scharf hingehorcht. Dazu kam sein häufiges Verschwinden – dreimal schon Urlaub in so kurzer Zeit, und immer bloß, um die kranke Mutter zu besuchen! Andere Leute hatten auch kranke Mütter, aber die Herren Direktoren würden sie schön angesehen haben, wenn sie so oft um Urlaub nachgesucht hätten! Der „Berliner“ bekam ihn jedesmal unbeanstandet – hm! – Nun er fort war, nun die Leute nicht mehr sein lustiges, harmloses Gesicht sahen, sein frohes Lachen hörten, kam es ihnen nicht mehr so recht geheuer vor mit dem fidelen Kameraden – einer hatte im Gespräch die Bemerkung fallen lassen: „Am Ende haben sie uns den bloß hergeschickt, um uns auszuhorchen, denn, wenn man’s sich recht überdenkt – – ausgehorcht hat er uns doch!“ Das fiel wie der Funke in ein Pulverfaß. Die Mehrzahl war freilich darüber einig: „Was aushorchen! Wir haben nichts Böses gethan, unser Gewissen ist rein, keiner kann uns was anhaben!“ Viele aber waren doch da, die das Verfahren des „Berliners“ eine Niederträchtigkeit nannten, die sie ihm gehörig eintränken wollten, wenn er sich wieder zeigen würde.

– – Vorläufig zeigte er sich nicht! –

Daß etwas in der Luft schwebte, war aber ganz sicher. Warum standen die Direktoren, die Ingenieure, die Buchhalter und Kassierer so oft jetzt in kleinen Gruppen beisammen und sprachen mit gedämpften Stimmen und wichtigen Mienen aufeinander ein, um, sobald die Arbeiter in ihre Nähe kamen, kurz abzubrechen und ganz unbefangen zu thun, was ihnen schlecht gelang? Weshalb thaten die Monteure, die Obermaschinisten geheimnisvoll, als wüßten sie allerlei, hielten es aber für ihre heilige Pflicht, zu schweigen? Kein Zweifel, die Justiz hatte eine neue Spur gefunden oder eine alte aufgenommen, und das wollte man den Arbeitern möglichst verheimlichen – ein Verfahren, das die Arbeiter offenbar übelnahmen. Ein paar von ihnen, die sich auf die Beobachter hinausspielten – sie waren es auch gewesen, die die Geschichte mit dem „Berliner“ nicht für geheuer hielten – hatten herausgefunden, daß die „Herren“, womit alle höheren Beamten der Kolonie Josephsthal schlechthin gemeint waren, ihre kleinen vertraulichen Konferenzen jedesmal erst dann hielten, wenn der Oberingenieur Harnack noch nicht gekommen oder wenn er wieder gegangen war.

Ingenieur Harnack war nie besonders gut gestimmt erschienen, hatte nie einen Freund in den Werken gehabt, stand immer isoliert und war bei den Leuten seiner Wortkargheit und Unfreundlichkeit wegen besonders unbeliebt. Den „Schwarzen“ nannten sie ihn, und sein Erscheinen war allemal das Signal, daß etwaige Scherze oder sorglose Unterhaltungen der Leute verstummten und jeder von ihnen doppelt emsig bei seiner Arbeit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0730.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2023)