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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


„Ja, sind Sie es denn wirklich?“ Die hübsche Malerin reichte ihm zögernd, aber mit sonnigem Lächeln die Hand. „Wie kommen Sie denn um Gottes willen hierher?“

„Eigentlich sind Sie doch noch in Tetuan!“ fügte die Kleine schüchtern hinzu.

Er lachte. „Ich war in Tetuan und fühlte mich, seit Sie gestern fort waren und auch sonst kein Mensch mehr da, dort höchst überflüssig. Mit meinem Befinden ging es immer besser. Da ließ ich mir heute bei Sonnenaufgang mein Pferd satteln und ritt los, im Galopp; der bringt einen vorwärts. Man braucht weniger als die halbe Zeit wie mit dem Maultier!“

„Aber da müßten Sie doch an uns vorbeigeritten sein!“

„Es führen drei Wege von Tetuan nach Tanger. Ich habe einen andern, näheren eingeschlagen. Aber den Rest legen wir, wenn es Ihnen recht ist, gemeinsam zurück!“

Den Damen war es freilich recht. Sie waren so überrascht durch das plötzliche Wiedersehen, daß sie kaum ein Wort fanden, um das Gespräch in Fluß zu erhalten. Und zudem erforderte eben hier der schlechte Weg volle Aufmerksamkeit und darum Schweigen. Er bestand, wie auch an den meisten anderen Stellen, nicht aus einer Straße im europäischen Sinn, sondern aus einer Anzahl ausgetretener, schmal und tief in den Kiesboden gebetteter Rinnen, die sich in wirren, planlosen Schlangenlinien durcheinander wanden, einigten und teilten. Dichtes Gebüsch und Zwergpalmenunkraut wuchs darüber hin und riß dem Unachtsamen jeden Augenblick den Fuß aus dem Bügel oder ließ das Knie unversehens an einer der sonderbaren, kegelförmig bis zu Mannshöhe aus dem Boden wachsenden Kiespyramiden anprallen.

Jeder suchte sich hier seinen eigenen Pfad, auf dem er sein Tier lenkte. Aber da diese Spuren immer wieder ineinander- und auseinanderliefen, stieß man doch häufig genug auf demselben Weg zusammen. Das erste Mal, als sich Klara und der Forscher begegneten, lachten sie nur und lenkten die Zügel nach rechts und links, aber ihre beiden Wege näherten sich rasch wieder in weitem Bogen und wieder sahen Roß und Maultier einander freundschaftlich in die Augen. Diesmal wurde die Malerin unwillig und bog beinahe querfeldein, einem großen Busch zu. Hier auf dem äußersten Randweg war ein ungestörtes Reiten möglich, in diesem dichten Strauchwerk, das sie bis über das Haupt umfing und plötzlich, inmitten der Hecken, ihr wieder die Wahl zwischen drei oder vier strahlenförmig sich teilenden Einschnitten freistellte. Sie ließ ihr Saumtier gehen wie es wollte. Das geduldige Geschöpf spitzte die Ohren und schritt so rasch aus, daß es gerade am Ende des Busches wieder mit Roß und Reiter, die von der anderen Seite kamen, zusammentraf.

Der Afrikaner lachte. „Sie sehen … wir entgehen uns nicht. Unsere Wege führen uns immer wieder zusammen.“

„Ich kann wirklich nichts dafür. Das Maultier ist schuld!“

„Warum fassen Sie das so prosaisch auf! Das arme Maultier ist doch nur ein blindes Werkzeug!“

„Ein Werkzeug wofür?“

„Für das, was die ganze Welt lenkt. Frivole Menschen wie ich nennen es Zufall, fromme Gemüter Vorsehung. In der Sache ist’s dasselbe: was geschehen soll, das geschieht! Und es ist offenbar im Rate des Schicksals beschlossen, daß wir heute nachmittag zusammen durch dieses Thal pilgern sollen!“

„Sie sind also richtiger Fatalist!“

„Das wird jeder, der sich viel in der Welt herumgetrieben hat. Je mehr er erfährt und erlebt, desto deutlicher sieht er, daß nicht das geschieht, was er will oder meint oder fürchtet, sondern daß eine ganz fremde Gewalt ihn aufhebt und da- und dorthin stellt wie die Schachfigur auf dem Brett. Uns stellt diese Hand heute eben nebeneinander. Da müssen wir uns schon darein finden.“

Die Malerin lächelte. „Wenn mir nichts Schlimmeres passiert,“ sagte sie, „als hier in Afrika ein paar Stunden von Ihnen beschützt zu werden …“

„Zwei Stunden höchstens noch. Dann sind wir in Tanger und Sie der Freiheit zurückgegeben. Bis dahin müssen Sie mir schon erlauben, daß ich vor Ihnen reite. Dann geht es besser!“

„Ja, zeigen Sie mir nur den Weg!“

Ein glückliches Lächeln verklärte, sowie er den Rücken wandte, ihr Gesicht.

„Ich folge Ihnen gern.“

Viel sprechen konnte man auf diese Weise nicht mehr, und wieder ritten sie stumm und gedankenvoll dahin durch die glühende Steppe, deren würziger herber Hauch sie im Wehen des Windes umfing und emporstieg zu dem sonnenwarmen, unergründlich blauen Weltraum über ihnen. Ringsum die lachende Reife des ersten Sommers, Stille und Größe um die beiden, die, da das Maultier mit dem rascheren Hufschlag des Pferdes gleichen Schritt hielt, bald weit vor den anderen voraus waren.

Hilda blickte ihnen sehnsüchtig, beinahe neidisch nach. Ihre Schwestern hatten es wahrhaftig besser als sie! Die eine hatte da vorne schon einen Freund und Begleiter gefunden, die andere, die älteste, ritt mit einem seltsamen, düsteren und siegesgewissen Lächeln den Dingen entgegen, die sich in Tanger bei der Ankunft der Cookschen Reisegesellschaft entwickeln sollten – aber sie? Sie war einsam und verlassen und ihre ganze Hoffnung ruhte jetzt auf Gibraltar.

Ein kräftigerer, kälterer Wind fegte über das Land, die Hügel verloren ihre bisherige Gestalt und verwandelten sich mehr und mehr zu kahlen, nur von spärlichen Grasbüscheln durchsetzten und von Kaninchen belebten Sanddünen, ganze Haufen wilder Hunde von jeder Farbe, Größe und Rasse saßen schläfrig sich sonnend vor ihren Erdlöchern oder schleppten, an den Hängen hinstreichend, allerhand genießbare und ungenießbare Stoffe, die angeschwemmte Beute des Meeres, mit sich fort, und da hob sich plötzlich, ein tief azurblauer Streifen, der Atlantische Ocean über den zitternden Riedgräsern der nächsten Düne empor. Bald breitete er sich unermeßlich zur Linken aus und geradeaus, jenseit der schmalen, in weißen Wogenkämmen an der andalusischen Küste brandenden Wasserstraße, grüßte, ein Nebelgebilde, das Kap Trafalgar hinüber zu der kaum sichtbar dämmernden anderen Stätte englischer Größe, dem trotzigen Felsen von Gibraltar.

Blau rings umher. Das tiefe satte Blau des Himmels und der Wellen. Und, scharf, beinahe blendend sich von ihm abhebend, die weiße, hoch am Berge aufgetürmte Stadt. Auf dem weichen Strand, am Rande des Meeres ritten sie auf Tanger zu. Ringsum war volles Leben. Vorbeigaloppierende Europäer auf mutigen Rossen, im Sonnenschein faulenzende Spanier, in Ziegenschläuchen das Trinkwasser schleppende Negersklaven, welche mehr mächtigen schwarzen Halbaffen als etwas anderem ähnelten, berberische Bauern mit ihren Weibern auf der Rückkehr aus der Stadt, die ledigen Esel vor sich hertreibend, und, näher zu den Quaimauern hin, die üblichen Hafenbummler aller Nationen, Viehhändler, Agenten, maurische Kaufleute, bebrillte, würdevolle Turbanträger als Steuerbeamte, jüdische Geldwechsler und Briefmarkenhändler, Angestellte der drei europäischen Posten, die ganze bunte menschliche Mustersammlung einer orientalischen Seestadt.

Auf der starkbewegten Reede, aus der jetzt bei Ebbe sich die Trümmer der von den Engländern bei ihrem Abzug im 17. Jahrhundert zerstörten steinernen Mole erhoben, schwankte ein Dampfer auf und ab. Ein Schwarm nußschalengroß erscheinender Boote umgab ihn wie die Kücklein die Henne oder fuhr zwischen dem Schiff und dem Landungsplatz hin und her.

Die Gouvernante warf einen befriedigten Blick auf dies Schauspiel.

„Cook und Sohn sind da!“ verkündete sie. „Sie sind schon an Land!“

^Und das freut Sie auch noch?“ Der Forscher, der mit Klara am Eingang der steil aufsteigenden Straße auf die anderen gewartet hatte, sah sie erstaunt an. „Cook und Sohn sind ja ein wahres Unglück für andere Reisende! Der reine Heuschreckenschwarm. Wer kann, ergreift die Flucht!“

„Der Geschmack ist verschieden!“ Die schwarzgekleidete Dame lächelte streng. „Ich für meine Person fürchte mich vor Cook und Sohn nicht. Im Gegenteil … ich hoffe sogar, daß wenigstens ein Teil der Gesellschaft in unserem Hotel abgestiegen ist. Das wird mir eine angenehme Gelegenheit geben, mein Englisch wieder einmal zu üben!“ (Fortsetzung folgt.)     


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0719.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)