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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Nun stand es unwiderruflich fest: am folgenden Tage sollte ich meine erste Reise, meine erste selbständige Reise anrreten!

Ich war zu Weihnachten so ausgestattet worden, daß Mama jetzt nur den Koffer zu packen brauchte, wobei mein jüngerer Bruder Toby mit rührend selbstloser Teilnahme half. Fast bei jedem Stück, das in den Koffer gelegt wurde, sagte er: „Das darf auch mit nach Berlin!“ oder: „Ihr glücklichen Hemden, Großmama wird euch gewiß selbst auspacken“ und so weiter. Er brachte bald dies und bald jenes von seinen Sachen und fragte, ob ich das nicht lieber auch mitnehmen möchte, ich könnte es vielleicht brauchen. Ich meine, das geschah nicht allein aus Teilnahme an meinem Glück, sondern ihm machte schon der Gedanke Spaß, daß wenigstens etwas von seinen Sachen die Reise mitmachen dürfte.

Als der Junge so eine Weile mit glänzenden Augen und heißen Backen seine Aufmerksamkeit zwischen mir und dem Koffer geteilt hatte, geschah etwas Unerwartetes. Toby hatte gerade, ganz gegen Gewohnheit respektvoll, zu mir, der ich vor dem Spiegel meine Reisetoilette anlegte, die anerkennenden Worte gesprochen: „Du siehst wirklich wie ein Sekundaner aus, beinahe wie ein Erwachsener,“ da sagte auf einmal Papa halb zu Mama gewandt, während ihre Blicke sich eigentümlich über mir kreuzten: „Na, Toby, pack deinen Kram mit hinein, du kannst mitreisen!“

Ich muß bemerken, daß ich meinen Bruder zärtlich liebte, daß ich ihm in Feuers- und Wassersgefahr unverzüglich nachgesprungen wäre – als er aber so dazu ausersehen ward, von meiner Reise die ganze Sahne abzuschöpfen, da hatte ich keinen Funken von Teilnahme für die Seligkeit, mit der er sich den Eltern an den Hals warf; ich hätte dem von nun an gemeinschaftlichen Koffer einen Stoß mit dem Fuße geben und ausrufen mögen: „Nun fahre ich gar nicht!“ Doch ich schämte mich meines Zornes und drehte Toby und den Eltern den Rücken. Zum Glück wurde ich gar nicht beachtet in seinem Freudenrausch. „Zur Großmama, zur Großmama!“ rief er und tanzte durch das Haus. Ich hatte fast nur an Berlin gedacht, an Großmama nur nebenbei, aber Toby – er dachte nur an Großmama, und wie es bei Großmama aussehen würde! Berlin war für ihn nur der Hintergrund für die liebe alte Frau.

Und nun schleppte er seine Sachen heran und packte sie in meinen Koffer. Ich war viel besser ausstaffiert als er, „trug“ er doch „auf“, was aus Vaters Kleidern für mich gemacht worden war. Die Knopflöcher seines Ueberziehers waren rund wie Mauslöcher, die ausgebeutelten Taschen voll gestopfter Risse, und mit diesem Paletot, mit diesen mehrfach geflickten schiefgetretenen Schuhen sollte er neben mir im Coupé sitzen, wenn ich den Mitreisenden das Rätsel aufgab, was für ein bedeutender junger Mann ich wohl sei! Nun, Toby ist auch nicht immer derselbe geblieben; nach und nach kam auch bei ihm die Selbstkritik zum Durchbruch und mit ihr das Verlangen, den Mangel an innerem Gleichgewicht durch eine zureichendere Toilette zu maskieren. Eine Eitelkeit, die nur bei hoffnungslosen Schmutzfinken ausbleibt.

Was Benzin, Bürste, Nadel und Faden an seinen Kleidern in Eile gutmachen konnten, das geschah. Ich machte den Vorschlag, ihn seine Sonntagssachen gleich zur Reise anziehen zu lassen, doch Mutter erklärte, da dieselben aus dem „billigen“ Laden wären, so vertrügen sie es wohl, von Toby bei einer Visite getragen zu werden, aber nicht, von Danzig bis Berlin die Bänke zu scheuern.

Ich gab mir redlich Mühe, mich mit der neuen Lage zu versöhnen. Doch fiel es mir recht schwer. Was den Besuch des „Zoologischen“, des Aquariums, des Panoptikums und der Urania anbetraf, so war mir die Begleitung von Toby ja nicht unwillkommen, da hatten wir so ziemlich die gleichen Interessen. Aber mit der erträumten freien Burschenherrlichkeit war es aus und vorbei! Ich hatte auf den Bruder aufzupassen, anstatt auf die mich umgebende neue Welt, ich hatte auf seine kindischen Interessen einzugehen, anstatt mich den Rätseln der Großstadt hinzugeben! So dachte ich – ahnungslos, daß der kleine Junge mir lediglich als Aufpasser beigegeben wurde, als Bleigewicht gegenüber den hinreißenden neuen Eindrücken.

Trotzdem wir, in einer Vorstadt wohnend, täglich die Lokalbahn benutzten, machte mir der Gedanke, an den Billetschalter treten und zwei Billets nach Berlin fordern zu können, genau denselben Spaß, als wenn ich ein kleinstädtischer Junge gewesen wäre.

Aber aus diesem Spaß wurde nichts, die gute Mutter konnte sich nicht entschließen, uns die letzte Stunde, die sich so schön mit Ermahnungen ausfüllen ließ, uns selbst zu überlassen. Sie begleitete uns, um, wie sie erklärte, unsere Billets zu besorgen. Ich bat, sich dieser Mühe doch nicht zu unterziehen, am Billetschalter wäre es so zugig. „Gieb mir nur das Geld,“ warf ich hin, wie wenn sich das von selbst verstünde, und streckte die Hand aus, als wäre diese Sache gar keiner Erörterung wert.

Aber nein! Mama erklärte, sie wolle am Schalter alles „noch einmal ordentlich befragen“. – Nur das nicht! knirschte es in mir, und jeder, der einmal selbst Sekundaner war, wird mir nachempfinden können, mit welchen Empfindungen ich diesem aus treuestem Herzen stammenden Vorhaben der Mutter entgegensah. So bescheiden wie möglich wies ich darauf hin, daß Papa ja die ganze Route klipp und klar aufgeschrieben und was es kostete abgezählt und eingewickelt habe. Aber Mama beachtete meinen Einwurf gar nicht, sondern fuhr fort, auf den guten treuherzig aufhorchenden Toby einzureden, der an ihrem Arm hing und zärtlich zu ihr emporblickte. „Wenn ihr euch zum Fenster hinauslehnt,“ wandte sie sich an mich, „kann plötzlich ein Tunnel kommen, und euch wird der Kopf eingeschlagen, oder ihr werdet blind von der Zugluft. Und bei Großmama müßt ihr euch gut die Füße rein machen. Und wenn Großmama nachmittags bei der Zeitung einschläft, dann stört sie nicht, sondern bleibt schön still sitzen. Sie schläft von 1 bis 4 Uhr, dann wird Kaffee getrunken, und dann wird Tante Tildchen mit euch ausgehen. Vormittags wird sie dazu keine Zeit haben; dann werdet ihr vom Fenster aus das Treiben auf der Straße betrachten, es ist dort sehr lebhaft; oder spielt Halma, lest und schreibt an uns, aber versucht nicht, allein auszugehen! Großmama würde sich tot ängstigen.“

Ich war ganz baff. Von morgens 7 bis zum Mittagsessen aus dem Fenster sehen, von 1 bis 4 Uhr neben einer schlafenden Großmama sitzen und dann um 4 Uhr mit Tante Tildchen ausgehen! O freie Burschenherrlichkeit, du lockender Traum, solltest du wirklich also zerrinnen?

Am Billetschalter herrschte lebhaftes Gedränge. Und was ich als das Schlimmste befürchtet hatte, traf ein: eine ganze Schar von Schülern der oberen Klassen des Gymnasiums bemühte sich gleichfalls um Billets. Nach Zoppot, wie ich hörte. Und sie alle sollten nun Zeuge werden, wie über meinen Kopf weg Mama unsere Reise erörtern würde, als sei ich noch ein Kind, das man an der Hand führen müsse.

„Hier meine beiden Knaben sollen nach Berlin fahren,“ begann sie – „zur Großmama“ – letztere Erläuterung galt dem uns durch langen Verkehr bekannten Billeteur, nicht dem Eisenbahnfiskus. „Geben Sie mir zwei Billets dritter Klasse nach Berlin! Das geht über Stettin, nicht wahr?“ „Aber Mama, selbstverständlich,“ raunte ich ihr im tiefsten Kehlton männlicher Ueberlegenheit zu, „oder wir müßten mit einem ganz andern Zug über Dirschau fahren,“ fuhr ich lauter fort, um vor den Umstehenden die Ehre der Familie zu retten.

Doch Mama ließ sich nicht beirren. – „Und in Stettin muß umgestiegen werden, nicht wahr? Da müssen die Kinder über ein Gleis gehen – ist das nicht gefährlich?“

Glücklicherweise reichten die Specialkenntnisse des Billeteurs über seinen Bezirk nicht hinaus. „Na, die jungen Herren werden sich schon zu helfen wissen,“ sagte er lächelnd, legte die Billets hin, strich das Geld ein und die Nachdrängenden schoben unsre Mutter weiter.

Sie reichte verschiedenen ihr bekannten Damen die Hand und klagte: „Es ist einem doch so eigen, die beiden Buben ganz allein fahren zu lassen. Sie fahren nur bis Zoppot – schade, wie gerne hätte ich sie Ihnen anvertraut.“

„Na, bis Zoppot will ich ihn beschützen, auch soll’s mir nicht darauf ankommen, bis Klein-Katz mitzufahren!“ sagte Konrad Telge, einer von deu Autoritäten der Obersekunda, und gratulierte mir händeschüttelnd zu der Reise. Und ohne den Hohn dieser Worte zu erfassen, nahm die besorgte Mutter vor

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0702.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2023)