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Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte.

Die Höhlenlabyrinthe in Bayern und Oesterreich.
Von Eduard Grosse.

Seit uralten Zeiten haben die Menschen in Höhlen Zuflucht gesucht, anfangs in Naturhöhlen, in denen sie sich häuslich niederließen, später in künstlichen Höhlen, die sie zu Wohnzwecken in weiches Gestein oder geeignetes Erdreich gruben. Noch heute werden hier und dort solche Höhlenwohnungen geschaffen. In den mächtigen Lößlagern Chinas findet man sogar ganze Dörfer, die in den Löß eingegraben sind, der bekanntlich die Eigenschaft besitzt, an der Luft zu erhärten und auch ohne Ausmauerung genügende Sicherheit gegen den Einsturz zu gewähren.

Diese Eigenschaft des Löß war auch Völkern, die vor uns Deutschland bewohnten, wohl bekannt, und sie legten in ihm sowie in weichem Sandstein eigenartige Höhlen an, die unter dem Namen „Erdställe“ in Mähren, Niederösterreich und Bayern bekannt sind und seit einigen Jahrzehnten den Scharfsinn der Altertumsforscher herausfordern, da ihre ehemalige Bestimmung noch immer von dem Schleier des Geheimnisses verhüllt ist.

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Das Höhlenlabyrinth zu Lechwitz in Mähren.
Blick von innen mich dem Eingänge.
Eingang in einen Höhlenbau.
Innerer Gang mit Abzweigungen im Hintergrunde.

Auf diese sonderbaren Höhlen wurde man zumeist durch Einsinken von Pferden, das während des Ackerns erfolgte, aufmerksam. So versank im Jahre 1813 unweit des Lechwitzer Schlosses in Mähren ein Ackerpferd mit den hinteren Beinen so tief in das aufgelockerte Erdreich, daß es großer Anstrengung bedurfte, das Pferd wieder herauszuheben. Wo es eingesunken war, entdeckte man ein tiefes Loch, das zum Eingang einer künstlichen Höhle führte, die zuerst vom Lechwitzer Amtmann Zelinka untersucht und beschrieben wurde. Man schüttete damals den Bau wieder zu, und er geriet in Vergessenheit. Im Jahre 1857 sank abermals ein Pferd ein, und nun beauftragte die Regierung den Altertumsforscher Mauriz Trapp, eine gründliche Untersuchung vorzunehmen. Diese ergab, daß der Erdstollen aus fünf Gemächern und verbindenden Gängen bestand, alle von geringer Höhe und die Decken in Spitzbogen ausgehauen. Der Eingang, welcher ursprünglich frei lag, war hoch mit aufgeschwemmter Humuserde bedeckt, deren Mächtigkeit Zeugnis ablegt für das hohe Alter des Höhlenbaues. Unsere obenstehenden Bilder zeigen den Eingang in den Höhlenbau, den Blick von innen nach dem Eingänge, und einen Gang mit Spitzbogenkammern nach den Zeichnungen, die s. Z. im Auftrage des mährischen Landesausschusses aufgenommen wurden.

Durch das Einsinken von Zugtieren und durch andere Zufälle wurden da und dort immer mehr Höhlenbauten entdeckt; dadurch aufmerksam gemacht, nahmen die Altertumsforscher sowohl in Oberbayern wie auch in Niederösterreich eine umfangreiche, wissenschaftliche Durchforschung der rätselhaften Erdstollen vor.

Die gesamten Höhlenbauten Bayerns und Oesterreichs sind nach gleichen Grundgedanken angelegt. Eine Abweichung zeigt sich nur in der verschiedenen Deckenform, die bald im Rundbogen, bald im Spitzbogen mehr oder weniger kunstvoll ausgehauen ist.

Auffallend ist die allgemeine Niedrigkeit der Gänge sowohl als der Kammern. Erstere muß man fast immer in gebückter Stellung durchschreiten oder noch öfter langausgestreckt auf Händen und Beinen durchkriechen. Auch die Kammern sind sehr niedrig, so daß ein großgewachsener Mann darin selten vollständig aufgerichtet stehen kann. Der Querdurchmesser der Kammern schwankt zwischen 1 und 4 Metern, der Durchmesser der Gänge ist meist so gering, daß ein Mann eben hindurchschlüpfen kann. Die Maße sind alle zwerghaft, und wenn das Volk des Mittelalters, welches die ehemalige Bestimmung der Erdhöhlen nicht mehr kannte, dieselben sagenhaft als Zwergwohnungen auffaßte, so war das dem damaligen Zeitgeiste ganz entsprechend. Noch heute werden die Höhlen in einigen mährischen Landstrichen vom Volke „Zwirglhöhlen“ genannt.

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Grundriß des Höhlenlabyrinthes von Unterretzbach.
(Die Buchstaben K bezeichnen die Kammern, G die Gänge, F die unerforschten Fortsetzungen der Gänge. Die punktierten Linien bedeuten übereinander liegende Bogengänge oder Irrgänge.)

Der Umfang der Höhlen ist verschieden. Man findet kleine Anlagen, aber auch wieder erstaunlich umfangreiche Bauten, die sich kilometerweit unter der Erde hinziehen und ein vollständiges Labyrinth von auf- und niedersteigenden, sich verzweigenden, sich krümmenden, in sich zurückkehrenden Gängen und dazwischenliegenden Kammern bilden. So entdeckte Pfarrer Lambert Karner in dem österreichischen Dorfe Röschitz ein Höhlenlabyrinth, das sich unter vielen Bauerngehöften hin erstreckte und zu dessen Erforschung er nahezu drei Tage Zeit brauchte. Das Labyrinth war zwar nicht mehr vollständig zugänglich, die Grundmauern und Keller der Häuser hatten es in einzelne Teile zerschnitten, der Grundriß der Anlage läßt jedoch erkennen, daß ehemals die einzelnen Teile alle zusammenhingen und ein Ganzes bildeten. Umfangreich ist auch das Labyrinth von Unterretzbach, das sich der Sage nach eine halbe Stunde weit unter der Erde fortsetzen soll, und von dessen erforschtem Teil wir den Grundriß in Abbildung bringen.

Die unterirdischen Gänge und Kammern sind natürlich vollständig dunkel, da kein Lichtstrahl in dieselben fallen kann. Wer sein Leben nicht aufs Spiel setzen will, darf sie daher ohne ein mitgenommenes Licht und ohne sonstige Vorsichtsmaßregeln nicht beschreiten. Als sie noch von ihren Erbauern und deren Nachfolgern benutzt wurden, fand sich der Eingeweihte mit Hilfe von handgroßen Vertiefungen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 685. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0685.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)