Seite:Die Gartenlaube (1898) 0651.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Zeit höre!“ sagte hinter ihr eine Männerstimme. „Der erste Gruß der Kultur! Und noch dazu gleich in deutscher Muttersprache! Guten Abend, meine Damen!“

Klara drehte sich um. Es dämmerte schon so stark, daß sie nur noch die Umrisse des Fremden erkennen konnte, einer mittelgroßen Gestalt in fremdartigem, halb arabischem Reitanzug.

„Guten Abend!“ versetzte sie etwas beklommen. „Woher kommen Sie denn auf einmal? Ich hab’ Sie gar nicht in den Hof reiten hören.“

„Meine Leute sind auch draußen geblieben. Ich lasse bloß umsatteln. Ich hatte ein kleines Malheur mit meinem eigenen Pferd. Nun nehme ich das eines Berbers, der mit mir ist.“

„Und dann wollen Sie heute noch weiter?“

„Sowie mein englischer Sattel auf dem Gaul liegt. Nach Tetuan.“

„Da kommen Sie aber spät in der Nacht an!“

„Ich habe einen Regierungsaraber mit! Man muß mir öffnen!“

„Ach so . . ja!“ sagte die Malerin. Sie fand sich allmählich in die seltsame Lage, im Dämmern mit einem ganz unbekannten Mann zu sprechen. „Sie finden übrigens dort Gesellschaft.“

„Das ist’s ja eben!“ Der Fremde trat einen Schritt näher. „Deswegen erlaubte ich mir ja, Sie anzusprechen! Ich brach nämlich vor fünf Tagen von Fez nach Tanger auf ...“

„Aber dies hier ist doch nicht der Weg von Fez nach Tanger ..“

„Nein. Ich wollte in Tanger die Jacht ‚Liberty‘ treffen. Haben Sie sie vielleicht gesehen?“

„Das schöne, schneeweiße Dampfschiff, das dem russischen Petroleumkönig gehört? Ja gewiß, das liegt dort.“

„Nun hörte ich heute morgen von ein paar Arabern, die Herrschaften von der ‚Liberty‘ seien nach Tetuan geritten! Da schlug ich den Haken und jagte von dem Fezweg herüber nach El-Fondak.“

„Ja … das heißt, der Besitzer der ‚Liberty‘, der kleine, glattrasierte Herr, ist nicht mit! Der ist in Tanger geblieben. Aber seine Tochter mit zwei Freunden ist allerdings nach Tetuan unterwegs.“

„Haben Sie sie selbst gesehen?“

„Sie haben uns schon mittags überholt mit ihren guten Pferden. Wenn es nämlich die ist, die Sie meinen. So eine – ich bin Malerin und hab’ sie darum näher angesehen – so eine Art Madonnengesicht mit langen Locken.“

„Na ja,“ die dunkle Gestalt vor ihr lachte, „das ist sie schon. Ich danke bestens für die Auskunft. Darf ich Ihnen mit irgend etwas dienen?“

„Danke, nein. Wir müssen uns schon die Nacht hier so behelfen. Morgen kommen wir auch nach Tetuan, zu Studienzwecken.“

„Ach ja … Sie sagten … die Damen sind Malerinnen?“

„Ich habe es für einen Leipziger Verleger übernommen, die aus dem Englischen übersetzte Reisebeschreibung einer Dame zu illustrieren. Unglücklicherweise mußte die Dame gerade durch Marokko reiten. Also muß ich dasselbe thun. Meine älteste Schwester begleitet mich als Reisemarschall und unser Jüngstes haben wir diesmal auch mitgenommen, damit sie etwas von der Welt sieht.“ Sie wies auf das Nesthäkchen, das, völlig erschöpft, mit offenem Munde schlafend dasaß, den Kopf vornüber gesunken und mit der Rechten krampfhaft die Schachtel mit persischem Insektenpulver umklammernd.

Die beiden sahen sie an und lachten. „Also auf Wiedersehen in Tetuan!“ Der Fremde lüftete den Hut.

„Wenn Sie gegen Mittag da sind, werden wir ja …“ Er stockte plötzlich und fuhr mit der Hand nach der Herzgegend. Es war, als ob er nach Atem ringe.

Klara trat erschrocken auf ihn zu. „Was haben Sie?“

„O nichts!“ sagte er schon wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme. „Es vergeht sofort. Eine kleine Quetschung von einem Sturz vorhin. Also nochmals, gute Nacht!“

Seine Gestalt verschwand in der Dämmerung, die schon schwer über dem Hofraum lag. Gleich darauf hörte man draußen in arabischen Worten seine befehlende Stimme und das Klappen der Hufe auf dem Steingeröll.

Die blonde Malerin stützte den Kopf auf die Hand.

„Ich möchte wissen, wer das war!“ sagte sie nachdenklich. „Nichts Gewöhnliches gewiß. Er spricht arabisch und kommt aus dem Innern. Vielleicht ist es ein berühmter Forscher …“

„… und wenn du ihn dir morgen bei Licht besiehst, ist es ein Reisender in Matjesheringen und baumwollenen Phantasiestoffen,“ murmelte mit ihrer tiefen Stimme die skeptisch angelegte Aelteste, die lang und düster wie ein schwarzer Schatten neben ihr stand.

Klara lächelte nur und erwiderte nichts. Hoch oben verlor sich das Klappern der Hufe und rastlos rauschte der Regen über Marokko.


3.

Der Regen rauscht, die Wolken fliegen – weiter, immer weiter durch das dämmernde Land. Stunde um Stunde verstreicht im Zwielicht zwischen Tag und Nacht, unter den Hufen fliegt der Boden, Gebüsch und Bäume gleiten rechts und links vorbei – so fließt die Welt dahin, so rollt das Leben in das Meer der über den Berggipfeln aufflutenden Nacht …

Wozu lebst du? Was treibt dich ruhelos vorwärts – zu immer neuem Begehren, neuer Erfüllung, neuen Wünschen, wo nur das eine sicher ist, das Ende, das all unser vielfach verschlungenes Hasten und Mühen auslöscht, wie das Kind ein Rechenexempel mit feuchtem Schwamme von der Schiefertafel wischt? Von Tag zu Tag zerrinnt das Dasein unter deinen Händen, unaufhaltsam, unwiederbringlich. Nutze es, ehe es zu spät ist.

„Aerra . . ärra . . rrrrschât!“ Die Berberknechte treiben die Tiere an. In langen Galoppsprüngen geht es weiter und weiter in das dunkle Land hinaus. Was dahinter liegt, versinkt im Schatten, was vorne ist, ruht in geheimnisvollem Grauen, im Dämmern liegt rechts und links die weite Welt.

Die weite, in abenteuerlichen Querfahrten so oft durchmessene Welt! Bunte Bilder weben im Kopf des einsamen Reiters, der da, fiebergeschüttelt, im schaukelnden Sattel nach vorn gebogen, wie im Traum den Nachtwind um die Ohren brausen fühlt.

„Tetuan, Herr!“ Der maurische Diener war mit zwei Galoppsprüngen an der Seite des Reisenden und wies in die Ferne. Ein schneeig weißer Streifen zog sich dort langgestreckt über einen Bergkamm hin, wie eine Märchenstadt durch das Abendgrauen grüßend.

Aus seinem Träumen erwachend, fuhr der Fremde im Sattel empor und blickte um sich. Längst hatten sie den Höhenpaß und den von ihm niederführenden Bergpfad hinter sich gelassen. Um sie dehnte sich in unbestimmten Umrissen eine weite, von wildzerrissenen Gebirgen umrahmte Ebene, von nichts anderem belebt als den rasch weiterwandernden fernen Schatten der Kamelkarawane. Da und dort, an den Flanken der Berge, ein einsam flackerndes Nachtfeuer, aus den Gestrüpphalden hoch von oben her das Geschrei sich balgender Hirtenjungen, fernes Kuhgebrüll und Eselgejammer, Windesraunen und pfeilschneller Wolkenflug um die Zacken des Atlasgebirges am Himmel.

Schon auf der Wetterscheide des Höhenpasses hatte der Regen aufgehört. Der Mond lugte ab und zu aus den im Sturm treibenden Wolkenfetzen und erhellte das weite Flachland, das Schlängelband des Habesch, der träge durch die Steppe seine Silberfluten dem Mittelmeer zurollte, und die weißgetünchte hohe Brücke darüber, die einzige ganze Brücke in dem verrotteten Land.

„Aerra! Aerra!“ Die Pferde schnauben, im Silberlicht der aufsteigenden Mondsichel blitzen die Gewehrläufe der voraufjagenden Berber, die Hufe klappern funkensprühend über den Boden. – Weiter, immer weiter, im Galopp über Stock und Stein, durch plätschernde Rinnsale, über aufgeweichtes Ackerland, quer durch grünwogende junge Saat dem weißdämmernden Höhenstreifen in der Ferne zu, der allmählich in den Fluten der Nacht versinkt.

Da tauchten die Schatten der Kamelkarawane aus dem Dunkel auf, der weißgekleidete Marokkaner an der Spitze, das Gewimmel eilfertig trabender Esel, der verschleierten Weiber und wollhaarigen Negersklaven rings um die schwerfällig wandelnden, dummstolz die abscheulichen Köpfe wiegenden Trampeltiere.

Vorbei! Vorbei! Ohne Gruß – fast ohne Blick, in gegenseitiger Verachtung! Der Europäer sieht hochmütig auf den halbwilden Nomaden herab, und dem wieder ist der Christ ein halb gefährliches und angstgebietendes, halb unreines und lächerliches Geschöpf. Die Kamelkarawane blieb in der Nacht zurück.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0651.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2021)