Seite:Die Gartenlaube (1898) 0650.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

So mit einem Sprung aus Dresden in das Innere Marokkos … ja, wer so viel gesehen und erlebt hatte wie ihre älteste Schwester dort hinten im Zelt, dem mochte das alltäglich vorkommen. Wenn man wie Martha seit zwanzig Jahren Erzieherin in allen Ecken der Welt gewesen war – bei einer deutschen Familie in Shanghai, bei Engländern in Melbourne, bei Deutsch-Amerikanern in San Francisko, wenn man durch so viele Lebenslagen gegangen und dabei halb zum Manne geworden war, da fand man es beinahe selbstverständlich, nachts bei drohendem Regen ein kleines Leinwandzelt als einzigen Schutz auf der Welt zu besitzen.

Und Klara, die zweite Schwester, – du lieber Gott: sie war nun einmal Malerin! Sie hatte ihren Beruf! Dem mußte sie folgen und Geld für all die drei Geschwister verdienen. Wenn es nicht anders ging, eben auch in Marokko! Aber sie, Hilda, kam sich dabei so unendlich nutzlos und so verlassen zugleich vor, mit all den Kenntnissen des eben glücklich bestandenen Lehrerinnenexamens, die ihren Kopf erfüllten, und all den Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft, die ihr doch beschert sein mußte, sowie sie sich nächsten Monat als Gouvernante in Genf auf eigene Füße gestellt hatte.

„Na hör’ mal, Kleine!“ sagte Klara neben ihr lachend und packte, gleichmütig heiter, wie sie immer war, ihr Malgerät zusammen, „was machst du denn wieder für ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?“

Und Martha, die älteste des Kleeblatts, die herzutrat und mit ihrer tiefen Stimme und dem strengen Schulmeistergesicht wirklich mehr den Eindruck eines alten Junggesellen als den eines noch nicht vierzigjährigen weiblichen Wesens machte, Martha meinte ebenfalls: „Es ist wirklich ein Elend. Nun macht man ihr die Freude und nimmt sie mit auf die schöne Reise …“

„Es ist ja auch wunderschön!“ sagte die Kleine fügsam und suchte die wieder einmal aufsteigenden Thränen gewaltsam zu verschlucken. „Nur … wenn jetzt noch Regen kommt …“ Sie wies zu den Bergkämmen empor, wo die immer dichter geballten Wolken sich in strömenden Schleiern herniederzusenken begannen. Ein kalter Wind fuhr vor der heranrauschenden Regenwand zu Thal. Die weißbesternten Hecken und niederen Palmbüschel bogen sich unter seinem Hauch. Die Riedgräser zitterten und ehe man sich’s versah, stürzte das eben aufgerichtete Leinenzelt nach kurzem unschlüssigen Hin- und Herschwanken mit einem matten Krach in sich zusammen. Und zugleich fielen schon die ersten, schweren klatschenden Tropfen. Sie kamen rasch dichter und dichter, sie lösten sich zu einem rastlos niederstäubenden Wasserfall auf, der gefürchtete afrikanische Küstenregen war da.

Während Klara in Eile Pinsel, Tuben und Palette im Wachstuchbeutel unterbrachte, spannte ihre Schwester mit der düsteren Ruhe eines vielgeprüften Weltumseglers ihren Schirm auf. „Frage den Führer, was nun werden soll!“ gebot sie der Kleinen mit ihrer tiefen, männlichen Stimme.

Hilda, der als eben geprüfter Erzieherin der englische Verkehr mit dem Kurier zufiel, übersetzte stockend wie ein Schulkind die Frage. Sie hatte Angst vor dem schönen, sanft lächelnden Mauren, der sie um zwei Kopfeslängen überragte.

„Er sagt, wir müßten in die Karawanserai,“ berichtete sie, „und die Nacht dort zubringen!“

„El-Fondak!“ bestätigte der Kurier und nickte.

„Giebt’s dort Betten?“ forschte Marthas Baßstimme.

„Nein, Betten sind nicht!“

„Sind noch andere Menschen dort?“

„Viele,“ bestätigte der freundliche Mann. „Kameltreiber, Pferdeknechte und anderes Mohrenvolk!“

„Ja, wie soll denn das die Nacht werden?“

„Die Ladies werden auf drei Stühlen sitzen und ein brennendes Licht steht am Boden, bis es Morgen wird. O, El-Fondak ist kein guter Platz für Ladies. El-Fondak ist ein schlechter Platz.“

Hilda klapperten die Zähne. „Da geh’ ich nicht hinein,“ sagte sie flehend. „Das wird eine schreckliche Nacht.“

Der Kurier drängte mit einem Blick nach dem Regenhimmel zur Eile. „Es giebt dicke Tage und schmale Tage. Heute ist ein schmaler Tag. Bald ist’s Nacht. Wir müssen in das Haus hinein!“

Aber selbst Martha, die Vielerfahrene, zögerte. „Rauchen die Kerle da drin?“ frug sie streng.

Ja, die Leute rauchten alle. Sie hatten aus Tanger Tabak mitgenommen.

„Sind vielleicht auch Maultiere da, die nachts schreien?“

„Ja, viel Maultiere!“

„Und was giebt es dort zu essen?“

„Zu essen giebt es nichts.“

„Und zu trinken?“

„Wasser! Aus der großen Cisterne!“

„Das sind wirklich traurige Aussichten!“ sagte die Schwarzgekleidete düster. Aber jetzt verlor die blonde Malerin die Geduld. „Kinders!“ sagte sie und lachte hellauf wie ein sorgloser Junge. „Thut mir den einzigen Gefallen und seid nicht so zimperlich! Was sein muß, muß sein! Wir sind nun einmal hier und von dem Gejammer wird’s um kein Haar besser! Was wollt ihr denn überhaupt? Wir sind doch nicht zum Vergnügen in Marokko!“

„Nein!“ bestätigte die Aelteste knapp und die Kleine wiederholte mit einem tiefen Seufzer der Ueberzeugung: „Nein. Zum Vergnügen sind wir nicht in Marokko.“

„Vorwärts denn, in die Karawanserai!“ entschied Martha. „Hilda, nimm das Insektenpulver! Gieb acht, daß es nicht naß wird. Wir brauchen’s. Klara trägt ihren Malkasten, ich das Huhn und die Orangen, der Führer das Zelt. Los!“

Sie stapfte, sich nach Kräften schürzend, durch den unergründlichen Schmutz dem Hofraum zu. Die andern in trübseligem Gänsemarsch hinterher durch Regen und Wind den Flöhen von El-Fondak entgegen. –

Um das Innere des Karawanenhofes lief eine Art offene Holzgalerie, die Schutz vor dem Regen und frische Luft bot. Hier ließ sich der Einzug in das gefürchtete, den Oberstock eines turmartigen Vorbaues bildende Nachtquartier noch am längsten hinausschieben. Es dämmerte bereits. Müde, frierend und schläfrig saßen die drei Schwestern, dicht aneinandergekauert wie die Vögel im Nest, auf ihren Holzschemeln, Hühnerknochen und Apfelsinenschalen auf dem Zeitungspapier im Schoß, und schauten in den Hof hinaus.

Viel war da nicht zu sehen. Kein Mensch und Tier auf der weiten Fläche von Urschlamm, in dem der unablässig niederströmende Regen allmählich die hundertfachen Spuren von Menschensohlen, Roßhufen, Kamelballen und Hundepfoten verwischte. Es wurde unangenehm kalt. Fern über dem grünen Buschwerk der Berghänge brauten Streifen von dampfendem Nachtnebel.

„… Wer jetzt in Dresden wäre …“ sagte plötzlich Hilda sehnsüchtig und verschlafen.

Die andern erwiderten nichts. Freilich … Dresden mit ihrem trauten, traulich eingerichteten Nest, mit Klaras Atelier darüber, mit allem Freundlichen und Gewohnten, während hier … Es war zu trostlos! In Tanger hatte man doch noch ein Hotel gehabt, Europäer, mit denen man sprechen konnte, ein Schiff, das in wenigen Stunden nach Europa fuhr …

„… wenn wir morgen wieder nach Tanger zurückritten?“ Die Kleine sagte das halblaut wie vor sich hin, hielt die Augen halb geschlossen und wartete mit klopfendem Herzen die Wirkung ihrer Worte ab.

Zu ihrem Erstaunen erwiderte Martha gar nichts. Aber zu gleicher Zeit fühlte sie von der anderen Seite her einen derben Klaps auf der Wange und sah das hübsche Gesicht der blonden Schwester ihr halb belustigt, halb ärgerlich zugewendet.

„Au!“ sagte sie weinerlich. „Du bist recht häßlich, Klara!“

„Ach was – au!“ Die junge Malerin stand auf und nahm lachend ihre beiden Hände. „… Sag’ mal, Hilda, .. weißt du nicht, daß wir Waisen sind und kein Geld haben?“

„Ja, Klara.“

„… und daß ich also für uns alle drei Geld verdienen muß?“

„Ja, Klara!“

„Warum machst du mir dann das unnütz schwer mit deinem Gequengel? Ich wäre auch lieber in Dresden. Aber ich red’ nicht davon, denn es hilft ja nichts.“

„Ja, Klara!“ Die Kleine küßte sie und trocknete sich die Thränen. „Ich bin eben so ein Schaf. Ich wollt’, ich wäre wie du!“

„Lieber Gott!“ Die Malerin lachte. „Ich bin kein Wundertier! Ich sag’ mir einfach: das und das muß geschehen! Also will ich es thun und thu’s!“

„Das ist das erste vernünftige Wort, das ich seit längerer

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0650.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2021)