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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

was Sie denken – Sie sollen das immer thun, ich bitte Sie darum! Ich habe den ernstlichen guten Willen, den Leuten zu helfen, allmählich hier und da Reformen einzuführen, und ich hoffe, mit der Zeit soll mir das gelingen. Es beruhigt mich so, daß Sie doch auch sagen, die Arbeiter sind hier so gestellt, daß sie unter normalen Verhältnissen mit ihrem Lohn auskommen können.“

„Sie dürfen meinen Worten kein großes Gewicht beimessen, ich sagte Ihnen ja, was ich auf diesem Gebiet nur sein will und kann –“

„Ein Dilettant, jawohl, ich weiß! Jedenfalls aber einer, der sich sein menschlich fühlendes Herz bewahrt hat, während ich den andern Herren gegenüber doch das Gefühl hatte, als sei ihnen das im Lauf der Zeit vor lauter Geschäftskenntnis und Amtseifer ein wenig abhanden gekommen. – Ich wollte auch so gern persönlich nach meinen Kräften eingreifen, den Leuten allgemach nähertreten – dazu schienen mir ihre Frauen und Kinder das beste Verbindungsmittel, ich dachte daran, den Kindern zunächst irgend ein Fest zu geben, ein Maifest zur Pfingstzeit zum Beispiel –“

„Ein glücklicher Gedanke, an dessen Ausführung Sie niemand hindern wird!“

„Doch! Die Herren waren, als ich die Idee nur andeutete, eigentlich alle dagegen. Namentlich Herr Oberingenieur Harnack protestierte lebhaft.“

„So?“ Raimund zog die Brauen hoch. „Und welche Gründe gab er an?“

„Er sagte, diese Idee mache meinem edlen Herzen – so drückte er sich aus – alle Ehre, wäre aber bedenklich in ihren Folgen. Wüßten erst die Leute, die er, Ingenieur Harnack, sehr genau zu kennen und richtig zu beurteilen behauptet, daß seitens des Besitzers der Kolonie Josephsthal Geld zu überflüssigen Dingen, zu Vergnügungen und Spielen für sie vorhanden sei, so wäre Thor und Thür geöffnet, sie würden mit hundert Bitten, Vorschlägen, Wünschen anrücken und dies damit begründen: das seien lauter notwendige Dinge, die die Herrschaft verpflichtet sei, ihnen zu gewähren, da sie sogar für einen bloßen Zeitvertreib eine größere Summe geopfert habe. Jetzt wissen die Leute genau, sie haben nichts zu fordern, sie haben sich nicht zu beklagen, sie müssen selbst Rat und Abhilfe schaffen; in ganz besonders schwierigen Fällen dürfen sie sich höchstens an ihren Direktor wenden, niemals an den Chef der Werke. Der Chef muß oberhalb und außerhalb dieser Dinge stehen, wie es bisher der Fall gewesen ist!“

„Mit nichten! Das ist eine total falsche Auffassung, der ich widersprechen muß!“ rief Raimund eifrig. „Die Sachlage war allerdings so, wie Harnack sie Ihnen geschildert hat, aber sie bestand zu Unrecht – Verzeihung, wenn dies einen Tadel für Ihren Vater enthält und wohl demjenigen, dem die Macht und die Mittel gegeben sind, bestehende Verhältnisse, die ihm unzureichend erscheinen, zu heben und zu bessern! Daß Ingenieur Harnack die Josephsthaler Arbeiter so sehr gut kennt, bestreite ich durchaus. Ihre Leistungsfähigkeit kennt und beurteilt er ja richtig, von ihren Charakteren, ihrer Lebensauffassung weiß er nichts. Das Sprichwort, wem man den kleinen Finger hinreiche, der greife alsbald nach der ganzen Hand, es würde hier nicht zutreffen. Die Leute würden sich freuen, wenn man ihren Kindern ein Fest gäbe und noch lange nicht für sich die Folgerung daraus ziehen, mit unverschämten Forderungen zu kommen, und wenn einzelne dreist genug dazu sein sollten, so muß man sie eben in ihre Schranken zurückweisen. Warum an den Menschen beständig zweifeln, ihnen unbedingt Schlechtes zutrauen? Ich glaube an das Gute in ihnen, und wer sie da zu fassen versteht, wo sie, die meisten von ihnen wenigstens, am selbstlosesten und am tiefsten empfinden: ihren Kindern gegenüber – der wird nicht umsonst an dies Gute appellieren und wird seine Freude daran erleben.“

Alix atmete hoch auf.

„Ich war, trotz des Widerspruchs, den ich erfuhr, doch gesonnen, bei meiner ursprünglichen Idee zu bleiben – jetzt bin ich fest darin. Ob ich etwas ausrichten werde und was, das muß die Zukunft lehren, ich kann nur immer wieder sagen: Ich will – ich will!“

Sie war schön, wie sie das sagte, ihr Gesicht so durchleuchtet von Energie und Entschlossenheit, daß Hagedorn ihre herabhängende Hand nahm und feurig küßte. Gleich darauf trat er, ärgerlich auf sich selbst, zurück, seine impulsive Natur hatte ihn wieder einmal fortgerissen.

„Ueberschätzen Sie nur nicht, was ich da eben gesagt habe,“ brach er ab in gezwungenem Ton und sah an ihr vorbei auf das sonnenüberblitzte, leise wogende Wasser, „Sie sind klug und entschlossen genug, um allein Ihren Weg vor sich zu sehen –“

„Doch nicht, ich sagte es Ihnen ja! Und ich wollte Sie gerade zu meinem Bundesgenossen werben!“

Das kam so einfach und warm heraus, daß Raimund von neuem im Begriff stand, sich fortreißen zu lassen – er nahm sich aber zusammen.

„Sie dürfen nicht vergessen, Cousine, daß das Interesse für den Arbeiterstand, die sogenannte soziale Frage, meinem eigentlichen Lebenselement ganz fern liegt. Jetzt rede ich wohl darüber, aber sechs Takte aus der Neunten Symphonie, und ich weiß kein einziges Wort mehr davon!“

Wenn es in seiner Absicht gelegen hatte, das stolze Mädchen zu verletzen, so war ihm dies gelungen. Eben noch hatte er so eifrig und überzeugt gesprochen, so voll Begeisterung ihre Hand geküßt, sie hatte geglaubt, die Sache interessiere ihn wirklich, sie hatte auch glauben müssen, ihre Persönlichkeit komme dabei mit ins Spiel, und es lag so nahe, das zu denken. Sie war durch Erfolge verwöhnt, wußte, daß sie den Männern gefiel, auch ohne den goldenen Hintergrund gefallen konnte, und dies Bewußtsein ließ sie mit jener unbefangenen Sicherheit auftreten, die ihre Wurzel in einem stark entwickelten Selbstgefühl hat. Wenn ihr Raimund Hagedorn gefiel – und sie machte sich selbst gegenüber kein Hehl daraus, daß dies in ungewöhnlichem Maße der Fall war – so nahm sie als etwas Selbstverständliches an, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhe, daß es ihn erfreue und beglücke, in ihre Nähe gezogen zu werden, und daß nur seine Stellung ihm den unliebsamen Zwang auferlege, warten zu müssen, bis sie jedesmal die Initiative ergriff und ihn zu sich entbot.

Und nun gab er ihr unverhohlen zu verstehen, daß er über ein paar Takten schöner Musik nicht nur die Fragen, die sie interessierten, nein, wohl auch sie selbst ohne weiteres zu vergessen imstande sei!

Alix warf leicht den Kopf hoch, und in ihr vor UnWillen errötendes Gesicht trat der hochmütig verächtliche Zug, den ihre Verehrer gut genug an Baroneß Hofmann kannten.

Ganz „Diana von Versailles“, wie sie da stand und mit der Reitpeitsche in kurzen Zwischenräumen gegen den nächsten Baum schlug!

Raimund sah mit einem einzigen Blick, was er angerichtet hatte. Ein heißer, beschämender Schreck stürzte gleichsam über sein Herz her, gleich darauf aber wappnete sich dies Herz in Trotz: es war gut so! Was sollte dies Einvernehmen zwischen ihm und der reizenden Cousine, das immer mehr Anlaß zu Verabredungen, Begegnungen bot, immer heftiger eine Flamme schürte, die ihm schon im ersten Aufflackern bedenklich erschienen war! Es that ihm weh, sie beleidigt zu haben; lieber aber noch das als das gefährliche Spiel, das seine ohnehin schon schlimme Lage noch erschwerte!

Er sagte also nichts, kein versöhnendes oder entschuldigendes Wort; daß seine Augen Abbitte thaten, und zwar sehr sprechend und deutlich, das kam ihm nicht zum Bewußtsein.

Ueber den beiden raschelte es, im jungen Frühlingslaub bebte und schwankte ein Aestchen. Eine Schwarzamsel saß darauf und schickte ihr kleines Lied in die lachende, sonnige Welt hinein. Sie lockte die Gefährtin, lockte immer wieder, mit kurz anhebendem, sehnsüchtig ausklingendem Laut, daß es klang wie „Komm’ – komm’ – o komm’!“

Die zwei Menschen, die da regungslos unter der jungen, mit zartgrünen Blättchen behangenen Buche standen, störten den kleinen Sänger nicht. Sie sprachen ja kein Wort, sie machten keine Bewegung, aber alle beide hörten sie, verstanden sie den lockenden, werbenden Liebeslaut: „Komm’! Komm’! O – komm’!“ (Fortsetzung folgt.)     


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0623.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2022)