Seite:Die Gartenlaube (1898) 0619.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Gewiß, und den Anblick werde ich Zeit meines Lebens nicht vergessen!“ Der Ingenieur war ganz in die Erinnerung versenkt, die schwarzen Brauen schoben sich zusammen und bildeten eine einzige Linie auf der Stirn. „Hätte der feige Schuft ihn wenigstens auf der Stelle totgeschossen, es wäre nicht annähernd so entsetzlich gewesen! Aber nun, tagelang wie eine lebendige Leiche dazuliegen, mit diesem wächsernen Totengesicht, die Binde um die Stirn, regungslos wie ein Steinbild hingestreckt, und diese bläulichen Lippen, die sich von Zeit zu Zeit öffneten, um das schauerliche Stöhnen auszustoßen, das jedem, der es anhören mußte, durch Mark und Bein ging – –“

Er redete nicht weiter, denn zufällig, während der letzten Worte, war sein Blick auf den Bruder gefallen, und der stand vor ihm, erdfahl im Gesicht, aus hohlen, stieren Augen ihn anstarrend, mit bebenden Lippen, die keines Wortes mächtig waren – „Reinhold! Um Gott! Was fehlt dir? Das kommt von diesem unvernünftigen Trinken! Oder ist etwa die Schnittwunde in der Hand –“

Er kam dicht an ihn heran, aber der andere schob ihn unsanft zurück.

„Nichts – gar nichts, was soll mir denn fehlen? Es ist bloß … wie du einem so gräßliche Dinge erzählen kannst! Ich kann so was nun mal nicht anhören! Schon als Kind hab’ ich das nie gekonnt – du wirst dich besinnen …. so besinn’ dich doch – ich hab’ es nie vertragen können!“

Wilhelm besann sich freilich nicht darauf, aber er nickte, um den noch immer gänzlich Verstörten zu beruhigen.

„Siehst du! Also du erinnerst dich! Nur gut, daß du dich erinnerst, Will. Mir ist’s bis auf die neunte Haut gegangen, pfui, ich werd’ das Bild nicht mehr los!“ Ein Schauer packte und schüttelte ihn, während er sprach. Er wickelte hastig das Tuch von der Hand und trocknete sich die Stirn, auf welcher der Schweiß in großen Tropfen stand.

„Wenn du schon von meiner Schilderung so mitgenommen wirst, so dank’ dem Schicksal, das dir solchen Anblick ersparte; ich werd’ ihn nie vergessen. Und zu denken, daß es dem Staatsanwalt und den Richtern immer noch nicht gelungen ist, den Mörder zu ergreifen, so große Mühe sie sich auch geben – – Willst du fortgehen, Reinhold?“

„Allerdings! Da du mich von nichts anderem zu unterhalten weißt als von Mördern, lebendig Toten und Staatsanwälten –“

„Mein Gott, es ist doch natürlich, daß man an einem Ort, wo vor kurzem ein so schweres Verbrechen begangen worden ist, darüber spricht – ich noch dazu, der ich so nahe beteiligt bin –“

„Du? Beteiligt?“

„Nun ich war doch Herrn von Hofmanns erster Beamter, sein Vertrauter in allen Dingen, er hat mich oft seine rechte Hand genannt, und ich bin das auch gewesen. In der ganzen Kolonie stand ihm kein einziger so nahe wie ich!“

„Schön – ja, ich glaub’ es! – Also – adieu denn!“

„Du willst wirklich fort?“

„Und zwar so rasch als möglich.“

„Und wann seh’ ich dich wieder?“

„Ich – das – ich weiß noch nicht – ich schreib’ dir vielleicht – oder – oder du hörst sonstwie von mir. Das findet sich ja alles!“

„Und du bist wirklich ausreichend mit Geld –“

„Ja, genug – übergenug! Laß nur, laß – ich finde den Weg – darfst nicht mit mir kommen –“

Der Ingenieur ließ es sich nicht nehmen, den Bruder dennoch hinunterzubegleiten. Er hätte noch viel zu sagen und zu fragen gehabt, bei der offenbaren Verstörtheit des Trunkenen unterließ er es aber. Ein paar hastige Abschiedsworte – ein kaum fühlbarer, scheuer Händedruck …. und nach einer Minute war Wilhelm Harnack wieder oben in seinem einsamen Zimmer, wo die zertrümmerte Flasche am Fußboden lag und ein widerlicher, betäubender Dunst die Luft erfüllte. Er riß die Fenster auf und beseitigte die Scherben. Als er sich hinauslehnte, um nach dem Bruder zu sehen, war dieser bereits im Dunkel verschwunden.


13.

Waldweben! Man konnte es nicht Wind nennen, was da so lind durch die Bäume strich; wie ein Säuseln war’s, wie ein wohliges, sanftes Atemholen des Waldes, der lange in der Erstarrung gelegen hatte und nun aufgewacht war zu neuem Leben. Er konnte dankbar sein, der Wald – viel, viel hatte der Lenz für ihn gethan, hatte goldene Sonnenstrahlen geschickt, die das Eis tauen ließen und den Schnee schmolzen, hatte warme, fächelnde Luft gespendet und stundenlangen milden Regen. Nun trieb, nun wuchs es mit aller Macht, überhauchte mit zartem Grün den Erdboden, die Zweige und Aeste; es hing weiche, schaukelnde Weidenkätzchen an die geschmeidigen Aeste, rollte all die aneinandergedrückten Triebe zu krausen, kleinen Blättern auf und drang vor bis ins Herz des Waldes, die tiefe Einsamkeit zu schmücken.

Die Anemonen, die Windröschen blühten hier zu Hunderten, um den Fuß alter Linden und Buchen geschart; Maiblumen waren üppig emporgeschossen, da und dort grüßten aus ihrer grünen Hülle die weißen Glöckchen. Erquickender Duft stieg auf von dieser jungen, üppig emporschießenden Blumenwelt. Frisches lichtes Grün wiegte sich an den Bäumen im Sonnenlicht, und in den Zweigen hüpfte und flatterte es und sang werbende Liebeslieder; emsig bauten die Vögel unterm schützenden Blätterdach ihr Nestchen, während buntstrahlende Schmetterlinge hinauf in die blaue Luft schwebten.

Die breiten Wege, die Schneisen, die sich durch die sorgsam gehegten Forste ziehen, nehmen hier ein Ende. Ein schmaler Pfad nur windet sich aufwärts zwischen Brombeergestrüpp und Himbeerbüschen. An ihnen hängt noch der Morgentau in klaren Tropfen, denn die Sonne ist noch nicht bis hierher gedrungen, sie kommt erst gegen Mittag.

Von dem letzten Ausläufer des breiten, gebahnten Weges her ertönt ein Wiehern und Schnaufen. Ein Pferd wird sichtbar, ein zweites, und ein gutes Stück hinter den beiden ein drittes. Die arabische Schimmelstute macht den Anfang. Sie hat schlanken Trab gehen müssen bis hierher, einmal sogar kurzen Jagdgalopp; sie hat nichts dawider, jetzt so sacht zu schreiten. Sie käut ab und wirft den Kopf, daß die weißen Schaumflocken fliegen; der spiegelglatte, feingebogene Hals, den die Hand der Reiterin beruhigend klopft, hebt und senkt sich kokett mit dem zierlich aufgesetzten Köpfchen, und die Füße setzen sich tänzelnd und werfen sich aus dem Gelenk vor, als ob die Stute den spanischen Schritt ausführen wolle.

Der lichte Braune, der hinter ihr dreingeht, bekommt Lust, das nachzuahmen, darf aber nicht und muß es im Lauf dieser letztvergangenen Stunde zum vierten-, fünftenmal fühlen, daß er einen sehr exakten Reiter trägt, der wohl seinen eigenen Willen durchsetzt, die Launen seines Pferdes aber nicht zu dulden geneigt ist. Es gab sogar beim Aufsitzen einen kleinen Kampf, der Braune hatte lange gestanden und wollte doch zeigen, daß er Temperament besaß; aber in zwei Minuten merkte er, wer hier zu regieren hatte.

Tommy, des verstorbenen Baron Hofmann englischer Groom, der in gemessener Distanz folgte, hatte seine stille Genugthuung an beiden Reitern. Namentlich an dem Herrn. Tommy war Trainer gewesen, auch Jockey, er verstand sich auf seine Sache. Dieser Mister Hagedorn war ihm eine wahre Augenweide: leicht in der Hand – der Lichtbraune zeigte nicht einen Schweißtropfen und war so frisch, als sei er eben erst aus dem Stall gekommen – elegant im Sitz und vollkommen stilgerecht in der Haltung, mit dem unnachahmlichen Chic des gewiegten Herrenreiters, der sattelgerecht ist und sich auf jede Gangart versteht. Tommy würde gern einmal mit Mister Hagedorn über Pferde ins Gespräch kommen, noch lieber ihn freilich bei einem Hindernisrennen sehen, auf einem so tadellosen Vollblut, wie er, der Jockey, sie früher „in der Mache“ gehabt hatte – – das müßte ein Anblick sein!

Auch die Miß – das deutsche „Baroneß“ wollte dem Engländer schwer über die Zunge – saß korrekt im Sattel und regierte ihre „Primrose“ sicher und anmutig; was nicht immer leicht war. denn „Primrose“ hatte Capricen, war nervös und wurde leicht scheu; Mister Hagedorn hatte schon ein paarmal seine Hand ausgestreckt und die Schimmelstute bei der Kinnkette genommen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0619.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)