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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Sein Schauplatz ist das „Hölzle“, eine mit prächtigem Föhrenwalde gekrönte Anhöhe, und die Mitwirkenden sind die protestantischen Kinder Kaufbeurens. Schon am Tage vor dem eigentlichen Feste herrscht im „Hölzle“ ein lustiges Treiben inmitten der zahlreichen Buden, die Gelegenheit zum Schauen und Spielen geben, oder als Wirtschaften die nötige leibliche Erquickung bieten.

Um fünf Uhr morgens am eigentlichen Festtage werden die Langschläfer durch die Klänge einer Neveille geweckt. Sie wird von einer Knabenkapelle veranstaltet, die in blanker Uniform flott durch die Straßen der Stadt marschiert. Inzwischen sammeln sich die „männlichen“ Festteilnehmer vor dem protestantischen Schulhause. Hier ordnet sich eine bunte Schar, deren Anblick jedes Herz erfreuen muß. Im kriegerischen Schmucke erscheint die Kaufbeurer Jugend. Da ist zunächst eine Abteilung Landsknechte in altertümlicher Tracht, in vielfarbigen reichgeschlitzten Wämsern; über ihnen flattert die gelbrote Fahne, die zwei Sterne und den geteilten Adler in ihrem Felde trägt. Neben ihnen sammelt sich bayrische Infanterie aus der Neuzeit um ein weiß-blaues Banner, und es erscheinen auch Artilleristen mit einer ihrer Größe angepaßten Kanone. Umringt von einem Stabe von Offizieren mustert der kleine Feldmarschall mit Federhut und hochgesticktem Kragen die sich stramm ordnende Schar.

Dann setzt sich unter Musikklängen der Zug in Bewegung; er rückt aber langsam vor; denn vor einzelnen Häusern wird Halt gemacht. Die Musik bläst einen Tusch; der erste Fahnenjunker tritt vor und schwingt dreimal mit der Rechten und dreimal mit der Linken regelrecht die Fahne; dann überreicht er sie dem zweiten Fähnrich, der in gleicher Weise das Fahnenschwingen besorgt. Für diese Aufmerksamkeit stiften die Hausbewohner kleine Geschenke, die in die Heereskasse fließen.

Während dieser Zeit haben sich an der Wertachbrücke die Teilnehmerinnen an dem Feste versammelt. Auch sie haben sich festlich herausgeputzt und allerlei Kostüme, vor allem Volkstrachten, angelegt. Natürlich fehlen Marketenderinnen nicht, wie es sich für ein militärisch gefärbtes Fest wohl ziemt. Mädchen und Knaben machen noch vereint einen Umzug durch die Straßen der Stadt und die jungen Landsknechte beziehen die Wache vor dem Rathause.

Nachmittags marschiert man in das „Hölzle“ hinaus, und dort bricht die helle Festfreude aus. Es werden allerlei Spiele ausgeführt, von denen unser Zeichner einige im Bilde festgehalten hat. „Wunderkreis“ heißt eine runde Anlage im „Hölzle“, auf der sich zwischen Rasenstreifen viele Fußpfade im Kreise herumziehen. Auf diesem eigenartigen Platz machen die Knaben und Mädchen allerlei Aufführungen. Die schmucken Kostüme, die Blumenreifen, welche die Mädchen schwingen, die flatternden Fahnen gewähren einen überaus malerischen und bewegten Anblick. Das eine Bild auf Seite 605 zeigt uns die Jugend auf dem eigentlichen „Tänzelplatz“ versammelt, den hohe Waldbäume umrahmen. Die Knaben geben hier Beweise für ihre Kunstfertigkeit im Führen der Waffen und in allerlei Märschen;

Landsknechte. Artillerie. Marketenderinnen.


dabei spielen die kleinen Musikanten unermüdlich auf, und die Fähnriche schwenken lustig ihre Fahnen. Die Mädchen führen Reigen auf, wobei je zwei von ihnen einen Blumenreifen emporhalten. Auf den Kranzreigen folgen Ballreigen, Gesang und Tanz. In den Erholungspausen wird in den Buden Erfrischung eingenommen oder in allerlei Gewinnspielen das Glück versucht. Die Freude währt bis zum Abend, wo die Kinder um 7 Uhr heimkehren.

So ist der erste Festtag verrauscht, und am zweiten sind die Kinder früh auf den Beinen, denn das Fest wird – wiederholt. Am dritten aber tritt die Jugend zurück und die Erwachsenen halten sozusagen eine Nachfeier. Auf dem Tänzelboden wird wieder die weißblaue Fahne geschwungen. Nun weht sie in den Händen zweier Greise, die gerade vor fünfzig Jahren als Fähnriche in dem Knabenheere am Tänzelfest auftraten.

In dieser Weise wird seit alten Zeiten das eigenartige Fest in Kaufbeuren gefeiert. Ueber seinen Ursprung läßt sich heute Bestimmtes nicht mehr ermitteln, und wir können in dieser Hinsicht nur Vermutungen aufstellen. Da, wie schon erwähnt, ähnliche Kinderfeiern auch in anderen deutschen Städten abgehalten werden, wie z. B. in Dinkelsbühl, Landsberg a. L., Aichach, Naumburg a.S. etc., so dürfte es sich um einen Brauch handeln, der einst allgemeiner verbreitet war, dessen ursprünglicher Zweck aber im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet. Vielleicht bilden diese Feste die letzten Ueberreste einer altgermanischen Feier. Wir wissen ja, daß unsere heidnischen Vorfahren Auszüge in den Wald veranstalteten, um dort durch allerlei Zauberkünste feindselige Geister zu bekämpfen. Vielfach wurde auch der Kampf des Sommers mit dem Winter sinnbildlich in Volksspielen dargestellt. Aus solchen Bräuchen mögen sich die erwähnten Kinderfeste entwickelt haben; die kriegerische Ausrüstung der Knaben und der eigenartige Blumenschmuck der Mädchen deuten darauf hin. Mit fortschreitender Aufklärung wurden die Handlungen des heidnischen Gottesdienstes zu Spielen, und man setzte, um dem alten Aberglauben keine neue Nahrung zu geben, an Stelle der bösen Geister andere Feinde, wie z. B. die Schweden oder die Hussiten.

Gerade diese Umwandlung der althergebrachten Spiele erscheint uns bedeutsam. Sie zeigt uns, wie man interessante Volksbräuche erhalten und allmählich der Neuzeit anpassen kann. Mögen die schönen Kinderfeste fortblühen und in gleichem Maße noch spätere Geschlechter erfreuen!

B. B.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0604.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)