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bleiben die Jalousien geschlossen, und auf den Gartenwegen um die Trink- und Badehallen, die im Sommer peinlich geharkt und mit gelbem Kies bestreut waren, liegt der Blätterabfall vom Herbst her, kaum hin und wieder an den Rand gekehrt, während in dem Pavillon, aus dem die unermüdliche Kurmusik zu seufzen und zu schmettern pflegte, nur das laute Gezwitscher und Gezänk der Spatzen hervordringt, die sich unter dem zierlichen Eisendach vor dem winterlichen Unwetter zu bergen suchen.

Dies alles aber war schon überwunden, und die Stadt Ems hatte sich wieder aufs beste herausgeputzt, ihre Gäste zu empfangen, als ich eines schönen Abends dort eintraf, um meine Strafzeit anzutreten.

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Es war in der zweiten Hälfte des Mai. Man hatte mich so vielfach vor der schweren Sonnenglut gewarnt, die in den Sommermonaten sich über den tiefen Thalgrund lagere, daß ich meine Kur so früh als möglich beginnen wollte.

Als ich die Brücke betrat, unter der die gelblichen Wasser der Lahn träge zum Rhein hinabflossen, sah die Sonne nur noch mit einem letzten schiefen Blick über den niedrigen Höhenrand im Westen herein. Gleichwohl regte sich kein erfrischender Abendhauch, ein seltsam schwerer Dunst lag über Stadt und Fluß, aus dem zarten Laube der Alleebäume, die sich an beiden Ufern hinziehen, ließ sich nicht die leiseste Vogelstimme vernehmen. Auch die wenigen Menschen, denen ich begegnete, schienen unter dem Druck von sieben Atmosphären dahinzuwandeln, und ich glaubte in ihren Blicken etwas wie Mitleiden zu lesen, daß wieder ein armer Sünder den ersten Fuß in sein schwüles Zellengefängnis zu setzen im Begriff sei.

Man hatte mir ein Hotel auf dem rechten Lahnufer empfohlen, nahe beim Kurhause. Ich fand dort aber nicht eine Wohnung, wie ich sie suchte, die ruhigeren Zimmer waren vorausbestellt, der Schwarm von befrackten Kellnern, der mich umringte, scheuchte mich bald wieder hinaus. Als ich dann die lange Zeile der Häuser hinunterschritt, die dicht an die steile, siebenfach zerklüftete Felswand der sogenannten „Bäderlei“ angebaut sind, an jedem ein oder mehrere Schilder mit den Inschriften „Hotel“ oder „Pension“, machte ich endlich vor einem sauberen Hause ziemlich am äußersten Ende der Straße Halt, das mich mit seinen Balkonen und blanken Fenstern vertraulich ansah. Hier fand ich denn auch alles, was ich wünschte, zwei geräumige Zimmer nach Norden und Süden gelegen, letzteres auf einen Balkon sich öffnend, von dem aus man über die Wipfel der niedrigen Kastanienbäume hinweg den Fluß verfolgen konnte, wie er an der Brüstungsmauer der Kuranlagen vorbeifloß, gegenüber die hohen Dächer der Gasthöfe auf dem anderen Ufer. Das Haus wurde von einer Witwe geführt, die es mir als einen Vorzug rühmte, daß man hier oben auf dem Balkon jeden Ton der Kurmusik deutlich hören könne, wenn der Wind von Westen komme. Ich hütete mich, der guten Frau zu gestehen, daß mir dieser Vorzug eher als ein Nachteil erschien. Dreimal des Tages musikalischer Vergewaltigung durch die üblichen Tänze, Potpourris und Operettenouverturen wehrlos preisgegeben zu sein, däuchte mir nur eine Verschärfung meiner Einzelhaft zu sein.

Auch als ich hernach bei einem späten Umgang durch die Kuranlagen der Musik im Pavillon näher kam und gestehen mußte, daß sie, was das Programm und die Ausführung betraf, zu den besseren und vielleicht besten ihrer Art gehörte, fühlte ich mich gleichwohl nicht erschüttert in meiner Abneigung gegen diesen Zwangsgenuß, der nur einem Menschen zu allen Zeiten willkommen ist, der nicht „Musik hat in ihm selbst“. Statt auf diese vor dem Einschlafen ungestört lauschen zu können, mußte ich noch einmal aufstehen, um die der Schwüle wegen offengelassene Balkonthür zu schließen, durch die der Westwind abgerissene freche Töne eines Potpourris aus „Fatinitza“ bis in mein Hinterzimmer hereinschleifte.

Am andern Morgen begann ich dann zeitig meinen Kurpflichten obzuliegen und ließ mich dazwischen von einem freundlichen alten Herrn, der mir den frischen Ankömmling angesehen hatte, zu den historischen Plätzen in den Kuranlagen führen, mir den Stein zeigen, der die Stelle bezeichnet, auf der die letzte verhängnisvolle Begegnung König Wilhelms mit dem französischen Botschafter stattgefunden, die Lieblingswege des greisen Herrschers, sein Marmorstandbild in dem unglücklichen Civilanzug, mit den an noch trostloserer Phantasielosigkeit leidenden Reliefs.

Mein treuherziger Führer erzählte mir, daß er gerade in dieser Saison das Fest der fünfundzwanzigsten Wiederholung seiner Emser Kur feiere. Da er mir dies unter beständigem Räuspern, Aechzen und Krächzen mitteilte, konnte ich mich eines niederschlagenden Zweifels an der Heilkraft der berühmten Quellen nicht erwehren, so wenig wie die Ehren, die die Kurvorsteher einem solchen Jubilar zu erweisen pflegen, mir besonders verlockend schienen.

Im übrigen, nachdem der erste beklommene Eindruck verwunden war, ließ sich das Leben an diesem Verbannungsort leidlich an, und da ich mich meiner Kur in frühester Morgenstunde entledigte, hatte ich in den langen Stunden des Vormittags die schönste Muße, mich in eine Arbeit zu vertiefen, die mir Einsamen über die harten Anfechtungen des Heimwehs hinweghalf.

Schwerer freilich waren die Nachmittage zu überstehen.

Die rötlichen Blütendolden der Kastanien schienen dann wie kleine brennende Kandelaber die lastende Schwüle nur noch zu erhöhen. An Spazierengehen war vor fünf oder sechs Uhr nicht zu denken. Blieb nun freilich die Flucht in die Bergwälder hinauf, die steile Drahtseilbahn, die auf die Höhe des Malbergs führt, oder die einsamen Pfade im Buchenschatten des Wintersbergs. Da aber die halbe Kurgesellschaft regelmäßig die Waldwege des Malbergs unsicher macht und die Waldeinsamkeiten des anderen Berges nur im Schweiß des Angesichts zu erklimmen sind, wagte ich mich erst, wenn die Nacht hereindämmerte, ins Freie.

Auch an den Ufern der Lahn stromaufwärts zu schlendern, war über Tag nicht ratsam, da die Sonnenglut in diesen schattenlosen Thalgrund von früh bis spät mit voller Macht hereintroff. Und doch lockte mich ein kleines altes Nest, nur etwa ein Stündlein lahnaufwärts gelegen, Dausenau geheißen, das ich von weitem malerisch am Flusse hingelagert sah. Eine kleine blanke Kirche mit wunderlich behelmtem Türmchen hob sich nahe dem Stadtthor über dem dunklen Häuserhaufen empor, und am anderen Ende stand ein plumper viereckiger Turm, der nach der Ostseite den Wächter machte.

*  *  *

Am ersten Tage also, da nach einem der häufigen Gewitter die Sonne nicht wieder hervortrat, sondern die feuchte Kühle über dem Fluß das Wandern am Ufer entlang erquicklich machte, trat ich den Weg nach Dausenau an.

Es war ein Sonntag, die Straße aber trotzdem nicht sehr belebt, da ein größeres Konzert am Kurhause auch die Bevölkerung der Umgegend dorthin gelockt hatte. So war es ganz still unter den jungen Kirschbäumchen, die am Rande der Chaussee über der hohen Uferböschung stehen. Der Gewittersturm hatte massenweise die noch unreifen Früchte abgeschüttelt, sie knirschten unter dem raschen Fußtritt, einzelne Tropfen sprühten noch hin und wieder auf meinen Hut herab. Drüben aus den Wiesen stieg ein leichter Nebeldunst, in dem die lang’ eingesogene Sonnenglut verdampfte, und über den Fluß herüber und hinüber schossen die Schwalben.

So war ich in meinen Gedanken die größere Hälfte des Weges hingeschlendert, als ich eine seltsame Figur bemerkte, die unter einer der hohen Pappeln stand, an einen Chausseestein gelehnt, barhaupt und unbeweglich wie ein steinernes Bild. Ein kleiner Mann in ärmlichem Anzug; seine beiden knochigen Hände hielten, auf den Griff des Stockes zusammengelegt, mit der Gebärde eines Almosenheischenden einen alten schwarzen Hut vor sich hin. Als ich näher herangekommen war, sah ich, daß es ein Blinder war. Die Augenhöhlen zwischen den geschlitzten rotgeränderten Lidern blickten erloschen ins Leere. Ueber den dichten Brauen wölbte sich eine hohe Stirn, die einmal von einem nachdenklichen Geist bewohnt gewesen sein mochte. Aber die hängende Unterlippe gab dem Gesicht einen stumpfsinnigen, fast blöden Ausdruck. Dazu schien der kleine Mann gegen alle äußeren Eindrücke unempfindlich zu sein. An seiner völlig durchnäßten braunen Jacke und den schwergetränkten Leinwandhosen erkannte ich, daß er nicht daran gedacht hatte, während des Gewittergusses ein schützendes Dach aufzusuchen, und da ich ihn freundlich anredete und ihm ein Geldstück in den durchweichten alten Hut warf, verzog er kaum merklich den breiten offenen Mund, über dem ein

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