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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

bei der Tochter eine transparente Zartheit, wie man sie fast immer bei Leuten mit rötlichem Haar findet. Erst seit einigen Jahren war das Haar zu diesem Tizianschen Goldbraun nachgedunkelt – als Kind war Alix ausgesprochen rothaarig gewesen.

Sie stand jetzt und sichtete mit etwas zerstreuter Miene ihre Briefe. Ihre Gedanken weilten bei der bevorstehenden Unterredung mit Ingenieur Harnack. Sie hatte diese Unterredung hinausschieben müssen, da der Ingenieur noch am Abend jenes Tages, der sie durch Zufall mit Hagedorn zusammengeführt hatte, verreisen mußte in einer für die Josephsthaler Dampfschneidemühle wichtigen Angelegenheit. Es handelte sich um einen Motor, und Vetter Cecil hatte seiner Cousine an jenem Abend einen langen Vortrag über diesen Motor und seine Wichtigkeit gehalten; er selbst war ohne Zweifel sehr davon durchdrungen und war ein gewiegter Techniker; aber den beiden Damen, die seine Zuhörerschaft bildeten, blieben seine Auseinandersetzungen dunkel, denn als er das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Frau von Sperber lächelnd an Alix und sagte: „Nun möchte ich Sie gern bitten, Liebste, übersetzen Sie mir diesen Hagelschauer von technischen Ausdrücken in ein verständliches Deutsch und klären Sie mich gütigst darüber auf, was Herr Whitemore eigentlich hat sagen wollen – – wenn ich nicht an Ihrem bankerotten Gesichtsausdruck sehen würde, daß es Ihnen ganz ebenso geht wie mir und daß Sie gleichfalls nichts verstanden haben!“ Da hatte Alix lachen müssen: „Sie haben richtig gesehen, ich bin genau so klug wie Sie, liebe Frau von Sperber! Aber eins habe ich begriffen, und das ist für mich eine große Hauptsache: daß nämlich Oberingenieur Harnack jetzt verreist und also augenblicklich nicht zu haben ist!“

Heute früh war der Betreffende zurückgekommen, hatte sofort dem „stellvertretenden Chef“, Cecil Whitemore, Rapport abgestattet und sich sodann auf seinen Posten begeben.

Alix war es nicht behaglich zu Sinn, wenn sie an ihre bevorstehende Unterredung mit Harnack dachte; sie konnte nicht so ungerecht sein, sich gegen seine allerseits gerühmte Tüchtigkeit und geschäftliche Umsicht verschließen zu wollen, aber sie kam ungern mit ihm in persönliche Berührung, obgleich er sich stets streng in seinen Grenzen hielt und seine Manieren einwandsfrei waren. Es lag etwas in seinem beharrlichen Blick, was sie beunruhigte, sie hätte ihm zurufen mögen: „Ich verbitte es mir, daß Sie mich in dieser Weise ansehen!“ Das konnte sie freilich nicht; allein eben, weil sie es nicht konnte, legte ihr Harnacks Gegenwart diesen unliebsamen Zwang auf! –

Kein Brief von Maria! Lauter gleichgültige Dinge – Bitten um Unterstützung, Anpreisungen aller Art, Lotterielose, Preislisten verschiedener Lieferanten – Alix’ Hände warfen alles ungeduldig durcheinander, nachdem sie die Bittschriften ausgeschieden.

Hier noch ein Brief auf grauem, dünnem Papier, Poststempel Greifswald. Eine sonderbare Handschrift! Jeder Buchstabe neigt so sehr nach links hin, daß man Mühe hat, die Worte zu entziffern.

„Mein Fräulein! Wir haben Ihren Vater gewarnt, wir warnen Sie auch! Er hat nicht hören wollen, hat jeden guten Rat in den Wind geschlagen, es ist ihm schlecht genug bekommen. Sie sind eine Dame und wissen nichts von geschäftlichen Dingen, aber Sie sind über alle gesetzt, also müssen wir uns an Sie wenden! Räumen Sie auf mit den Leuten, die uns schaden, die auch Ihnen schaden werden, wenn Sie nicht hören wollen. Wir fordern neue Ingenieure bei der Schneidemühle und bei den Walzwerken, wir fordern erhöhten Lohn um 50 Pfennig pro Tag und Kopf, und wir fordern zwei Stunden weniger Arbeitszeit. Hätte Ihr Vater uns diese Wünsche erfüllt, wäre er heute noch am Leben. Leute aus England können nicht wissen, was dem deutschen Arbeiter zukommt; Ihr Vater hat das auch nicht gewußt, er ist ein halber Engländer gewesen und hat alles gemacht, wie sie es da drüben machen. Das können wir hier aber nicht brauchen.

Besinnen Sie sich, so lange es noch Zeit ist. Und nehmen Sie noch einen Rat an: Lassen Sie die Herren vom Gericht ruhig zu Hause; es hilft nichts, wenn sie die Arbeiter und die Leute vom Schloß hundertmal vernehmen: der Mörder Ihres Vaters wird sich darum doch nicht finden. Er wird überhaupt nie gefunden werden, ebensowenig wie der Schreiber der Briefe, die an Ihren Vater kamen, und der Verfasser des Briefes, der heute an Sie kommt!“

Alix wendete das Schriftstück hin und her, sie that es ganz mechanisch. Furcht empfand sie nicht, nur ein ungewöhnliches Kältegefühl in ihrem Innern, das die Worte „Mörder Ihres Vaters“ ihr erregt hatten. Wieder sah sie, wie zu ungezählten Malen, die regungslose Gestalt mit dem Leichengesicht und der Binde um die Stirn vor sich liegen und hörte das grauenvolle Stöhnen, das ihr durch Mark und Bein gegangen war. Und nun kam dieser namenlose Schreiber und sagte, ihr Vater wäre zur Genüge gewarnt worden, und jetzt solle sie, die mitten in diese ihr wildfremden Zustände hereingeschneit war, verantwortlich sein für alles weitere, wenn sie nicht handelnd eingreife. Ein starkes Gefühl in ihr lehnte sich auf gegen diesen anonymen Versuch, den an ihrem Vater begangenen Raubmord in Zusammenhang zu bringen mit der Unzufriedenheit seiner Arbeiter. Seit der Raubmord feststand, wies sie es weit von sich, die Männer, die in den Werken der Kolonie Josephsthal ihrem Beruf nachgingen, mit einem solchen Verdacht zu belasten. Aber konnte nicht der Verworfene, der ihr den Vater um niedriger Gewinnsucht willen getötet hatte, wirklich wähnen, daß er seine Unthat mit den Zuständen auf Josephsthal beschönigen könne? War an den Forderungen, die der Brief enthielt, vielleicht doch etwas berechtigt? Konnten die Leute bei den jetzigen Preisen, der jetzigen Arbeitszeit bestehen, oder war ihnen der Lohn wirklich zu knapp bemessen? Gaben die Ingenieure der Schneidemühle und der Walzwerke zu begründeten Klagen Anlaß?

Ach – Klarheit, Klarheit haben! Sehend sein, wo sie merkte, sie tappte im Dunkeln! Die Hände frei haben, wo sie fühlte, sie waren ihr gebunden! Ein schwaches Weib, war sie vor eine Aufgabe gestellt worden, der ein wohlunterrichteter, willensstarker Mann kaum gewachsen sein würde! Warum jetzt nicht sich einen Stellvertreter in Vetter Cecil, in Ingenieur Harnack oder sonst einem Geschäftskundigen bestellen, ihm alle Sorge und Verantwortung auf die Schultern laden – und hinweg aus diesem traurigen, kalten Norden fliehen, hinüber in den heitern Süden, in die Sonne, in den Frühling, unter fremde Menschen, neue Gesichter, die nichts von all dem Traurigen und Peinlichen wissen! Maria hatte klug sagen: Bleib’ auf deinem Posten! Erfülle die Aufgabe, die vor dir liegt! Hatte sie denn auch bedacht, die kluge Freundin, wie furchtbar schwer diese Aufgabe auf dem jungen Wesen, dem sie aufgebürdet war, lasten mußte? Das Studium von ein paar guten Broschüren und Vetter Cecils geschäftliche Unterweisungen thaten es noch lange nicht! Erfahrungen mußte sie sammeln, Fühlung mit ihren Untergebenen mußte sie gewinnen, wenn sie jemals dazu kommen sollte, die Herrin von Josephsthal nicht nur zu scheinen, sondern wirklich zu sein – und sie kannte noch nicht einen einzigen Arbeiter und wußte niemand, der ihr genügend Vertrauen einflößte, daß sie ihn hätte fragen, um Auskunft bitten können – –

Wirklich niemand? niemand?

Es ging wie eine Vision an ihr vorüber: eine Straße im Sonnenschein, leicht überschneit, sie selbst darauf herschreitend – und neben ihr ein Mann, der lächelnd sagt: „Wir sind einander ganz fremd, Baroneß –“ Das kam und ging wie ein Blitz. Unmittelbar darauf sagte sie sich, daß sie diesen anonymen Brief zunächst Justizrat Ueberweg zeigen, mit ihm darüber reden müsse, daß sie dann versuchen wolle, von Cecil über die Lage der Arbeiter der Kolonie Josephsthal im Verhältnis zu denen auf ähnlichen Werken genau unterrichtet zu werden.

Wie lange Alix in diesen Grübeleien mit ihren Gedanken herumirrte, hätte sie später schwerlich sagen können, sie fuhr erst daraus empor, als es an die Thür pochte und James mit seiner gedämpften Stimme meldete:

„Herr Oberingenieur Harnack bittet um die Ehre!“

„Ich lasse bitten!“

Unter der roten Tuchportiere bleibt er stehen und verneigt sich tief. Wie er näher herankommt, nimmt Alix wahr, daß sein kräftig gebräuntes Gesicht eine fahle Färbung hat und daß die Augen unter den schwer herabgezogenen Lidern unruhig funkeln. Es fällt ihr ein, daß Cecil ihr gesagt hat, Harnack habe es in letzter Zeit besonders schwer gehabt – Aergernisse mit den Leuten – Störungen bei den Maschinen – jetzt diese überstürzte Reise, Tag und Nacht auf der Eisenbahn! Und doch schließlich alles in ihrem Dienst! Diese Erwägung stimmt sie milder, sie besinnt sich auch darauf, daß sie sich zuweilen wirklich gut mit dem gebildeten und energischen Mann hat unterhalten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0582.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)