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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Annie war unverändert neben ihm. Die Welt begrenzte sich für sie nach wie vor in seiner Persönlichkeit, sie wollte nichts, erwartete nichts, fürchtete nichts – sie lebte eben nur vom Augenblick und für den Augenblick und war dankbar, daß Allan da war, und daß sie für ihn sorgen und denken durfte.

Er nahm auch das mit seiner todmüden Gleichgültigkeit hin und lohnte es ihr zunächst kaum durch einen Blick.

Als seine Erholung fortschritt – gegen alles Erwarten! – ließ er sich täglich von ihr an den Strand hinunterführen – die Dorfkinder sahen den beiden nach, mit jener scheuen Neugier, die der Sterbenskranke im Lebensfrohen hervorruft.

Ein Stück am Strande abwärts lag seit Jahren ein altes Wrack – halb auf dem Lande, halb in der See – Moos und Tang hatten sich darangesetzt und Seetiere krochen träge und schlüpfrig zwischen den morschen Brettern herum.

Wie oft, wenn ich aus der Praxis kam, sah ich seine gebückte Gestalt sich gegen den blassen Herbsthimmel abzeichnen, immer in derselben Stellung – ich ließ ihn zuerst ruhig dabei, weil ich ‚Gewähren lassen‘ für ihn jetzt als das beste fand.

Als er aber täglich und immer wieder dort, und immer nur dort zu finden war, da ging ich einmal zu ihm hinunter.

Es war ein warmer, klarer Oktobertag von jener wehmütigen Schönheit, wie sie der Spätherbst noch manchmal wie einen Abschiedsgruß an die Welt hat.

Allan lag heute auf einer Felldecke im sonnendurchwärmten Sande. Ich streckte mich neben ihm aus, er nickte mir freundlich und still zu; seine alte, gutherzige Liebenswürdigkeit brach jetzt wieder durch wie ein schwacher Sonnenstrahl.

Wir sprachen zuerst beide lange nicht – dann nahm ich das Wort. ,Warum sitzest du denn immer hier an dem Wrack, mein alter Kerl?‘ frug ich.

Er sah mit seinen müden, traurigen Augen zu mir auf.

,Wir verstehn uns so gut, das Wrack und ich,‘ sagte er, ,viel besser, als ich mich jetzt mit den Menschen verstehe – die wollen alle noch etwas – und hoffen etwas – und leisten etwas – das alles thun wir nicht mehr – das Wrack und ich. Sieh mal, das Schiff hier ist früher auch so mutig, so lustig in die Welt hinausgegangen – und jetzt ist es hier – es kann nicht mehr schwimmen – aber es geht auch nicht unter – manchmal scheint die Sonne darauf – und es liegt da so nutzlos und still – gerade wie ich!‘

Ich schwieg eine ganze Weile, weil ich einfach nicht sprechen konnte. ,Du mußt hier nicht so sitzen und grübeln!‘ sagte ich dann, ‚davon wirst du nicht besser!‘

Er sah ruhig zu mir auf – wie schmal, wie schmal war das Gesicht! ,Ach, Rütgers – das ist ja alles dummes Zeug; ich werde ja überhaupt nicht besser – das weißt du so gut wie ich!‘

‚Das weiß ich gar nicht!‘ sagte ich, ,du kannst, nach meiner Ueberzeugung, ein langes Leben vor dir haben, wenn du jetzt vernünftig bist.‘

Er hob mit einem erschrockenen Ausdruck wie abwehrend beide Hände gegen mich auf.

,Um Gottes willen nicht! Nur das nicht! Ein langes Leben – so ein Leben? Um jeden Atemzug kämpfen – sich einmal ein bißchen erholen – ohne Beruf – ohne Arbeit – jede Thür verschlossen, an die ich klopfe – würdest du mir das wünschen?‘

Wir schwiegen wieder beide eine ganze Zeit.

,Und wenn ich noch um eines Menschen willen da wäre,‘ fuhr er fort, immer im selben träumerischen Ton, der wie aus unerreichbarer Ferne zu klingen schien, ,wenn ich Eltern – Geschwister – irgend jemand hätte! Aber bei alledem noch so einsam – so grenzenlos einsam – keiner, der mich braucht – keiner, der mich entbehren würde – keinem nützlich und keinem nötig! Nein, auch dir nicht – sage nichts! Du würdest es dir und mir gern einreden – aber wenn du heute hörtest, Allan Senden ist – nicht mehr da‘ – er unterdrückte das Wort ‚tot‘! – ‚wenn du das heute hörtest, dann würdest du, bei aller Traurigkeit, dich doch sehr rasch mit dem Gefühl von meinem Namen abwenden: ,Es war das beste für ihn’ – und das wäre es ja auch! – Laß mich heute einmal sprechen,‘ fuhr er hastig fort, als ich etwas entgegnen wollte, ,einmal nur! Wer weiß, ob ich’s noch einmal kann – und was soll es denn schaden?‘

Er starrte eine ganze Weile auf das stille, sonnige Meer, und schwieg. ,Ich will dir etwas erzählen,‘ begann er dann wieder, ,besinnst du dich noch, daß dir in den ersten Tagen, als ich hier war, eine Rauchschwalbe mit zerknicktem Flügel gebracht wurde, die so jämmerlich am Boden kroch? Du sagtest damals: das ist einer unserer wildesten Flieger – den hat die Katze gehabt. Gegen diese Schwalbe warst du so barmherzig und legtest ihr ein Tuch mit Chloroform auf den Kopf – da lag sie so schön still – weißt du noch? Und dann nahmen wir sie mit in ein Boot weit hinaus – und warfen sie ins Meer – der Mond schien gerade so glitzerig darauf, wie sie versank! Rütgers!‘ fuhr er fort, legte mir die Hand auf den Arm und sah mit seinen großen sprechenden Augen zu mir auf, ,hast du nicht dieselbe Barmherzigkeit für mich? Ich krieche auch so mit geknickten Flügeln am Boden – mich hat auch die Katze gehabt – wenn einem Arzt einmal die Möglichkeit geboten wird, jemand so ganz heilen zu können – da sollte er doch nicht so hart sein!

Und jetzt laß mich allein!‘ fuhr er nach ein paar Augenblicken fort, ,jetzt will ich wieder ein bißchen schweigen gehen. Laß mich allein!‘

,Das thue ich nicht!‘ sagte ich rauh, um einer mich erstickenden, überwältigenden Bewegung Herr zu werden, ,du sollst hier nicht so einsam herumsitzen! Stehe auf und komm’ mit mir – ich sage dir, du wirst kräftiger werden und die Lust zum Leben wird wiederkommen – glaube mir doch – hast du mir denn nicht sonst immer geglaubt?‘

Er stand zögernd und widerwillig auf und warf noch einen fast zärtlichen Blick auf das Wrack. ,Bis morgen!‘ sagte er vor sich hin.

Wir gingen langsam, langsam am Strande zurück. Die Ebbe war eingetreten, und im weichen Sande liefen die langen krausen Linien entlang, wie sie die Wellen manchmal zurücklassen. Er blieb stehen und starrte gedankenvoll darauf nieder.

,Siehst du?‘ sagte er, ,hier hat das Meer so in den Sand geschrieben – wer weiß, was das für Geschichten sind – wenn man sie nur lesen könnte! Vielleicht sind sie ebenso traurig wie meine! Und dann wäscht die nächste Flut sie weg – und es ist alles wieder, wie es gewesen ist, und keiner hat die Geschichten gelesen und verstanden!‘


Gegen Abend – kurz, ehe Allan ins Theezimmer kam, was er jetzt wieder öfter thun konnte, suchte ich Frau von Redebusch und Annie auf. Ich erzählte ihnen von meinem Gespräch mit Allan – ich sprach vom hereinbrechenden Herbst mit seinen kürzeren Tagen und rauhen Stürmen – und auch von meiner Ueberzeugung, daß Allan, sobald es sein Zustand irgend gestatte, nach dem Süden gehen und dort für Jahre, vielleicht für immer bleiben müsse – ich hatte es ihm selbst schon gesagt.

,Aber wer soll denn mit ihm gehen?‘ fügte ich sorgenvoll hinzu, ,der arme Junge hat ja keinen Menschen auf der ganzen weiten Welt!‘

Annie hatte am offenen Fenster gesessen und still, still zugehört – ihre helle Gestalt hob sich scharf gegen das Dunkel ab; wir hatten noch kein Licht im Zimmer, und nur der blasse Mond zeichnete das schwarze Fensterkreuz auf den weißen Boden.

Jetzt stand sie auf und trat zwischen die Mutter und mich, sie nahm unsere beiden Hände, und ich wußte in demselben Augenblick, was sie thun wollte und thun würde.

,Ich werde mit ihm gehen!‘ sagte sie klar und fest und entschieden; ,so lange er gesund und glücklich und reich war, konnte ich ihn allein lassen – jetzt kann ich’s nicht mehr!‘

Und als in demselben Augenblick der müde, schleppende Schritt draußen erklang und näher kam – als Allan sachte die Thür aufklinkte und ins Zimmer trat, da ging sie ihm entgegen, so unbeirrt in ihrer reinen Unbefangenheit, als wären wir anderen gar nicht im Zimmer, als wäre sie schon so einsam mit ihm auf der Welt, wie sie’s fortan sein wollte.

,Allan,‘ sagte sie, zog ihn zu seinem Sessel und kniete neben ihm nieder, ,du bist so allein, und wenn du fortgehst, bin ich noch viel mehr allein – darf ich nicht bei dir bleiben?‘

Er schwieg eine ganze lange Weile. ‚Mein Schutzengel!‘ sagte er dann endlich fast unhörbar und ließ den Kopf auf ihre

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0576.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)