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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ein zottiger Hund die fremde Erscheinung an, und eine Frau in grober Schürze trat wohl unter die Thür, zu sehen, was es gäbe. Am lichtblauen Himmel schwamm auch nicht ein einziges Wölkchen, nur das goldene Sonnenangesicht lächelte herab und versprach der Welt den Frühling.

Alix von Hofmann ging jetzt links dicht an den Häusern entlang, als es hinter ihr erklang wie das leichte Anschlagen eines Glöckchens. Ein Radfahrer kam auf seinem Zweirad in schwindelnd schneller Fahrt die Dorfstraße entlang. Er hielt sich sehr aufrecht und handhabte sein Fahrzeug mit großer Gewandtheit. Mehrere Beamte in Josephsthal bedienten sich dieses modernen Beförderungsmittels; diesen hier meinte Alix noch nie gesehen zu haben. Sie mußte ihm beifällig zuschauen – keiner von den Frankfurter Herren, die den Radsport mit heißem Eifer wie die ernsteste Lebensaufgabe pflegten und zu Dutzenden in den Taunusanlagen umherschwärmten … keiner von ihnen hätte zaudern dürfen, in diesem Josephsthaler Einwohner einen ebenbürtigen Nebenbuhler zu begrüßen.

Plötzlich erstarb das bewundernde Lächeln auf Alix’ Lippen und machte einer Miene der Bestürzung Platz. Aus dem links gelegenen Schulgebäude waren vier, fünf Knaben, im Alter von etwa sieben bis zu neun Jahren, soeben herausgetreten, und einer von ihnen – es war gerade der kleinste – lief, so rasch ihn die Füße tragen wollten, dicht vor dem Radfahrer quer über die Straße. Er wäre vielleicht glücklich auf die andere Seite gelangt, aber der halb von der Sonne zertaute Schnee war schlüpfrig und glatt, das Kind strauchelte, stieß einen gellenden Schrei aus und lag im nächsten Augenblick glatt auf der Erde. Ging das schwere Zweirad über das dünne Körperchen hinweg, so konnte es ein großes Unglück abgeben.

Wunderbarerweise geschah dies nicht. War es ein glücklicher Zufall, hatte der Radler eine so große Geschicklichkeit und Geistesgegenwart besessen … das Rad fiel weder um, noch ging es über den Knaben hinweg – es beschrieb in vollem Schwung eine Kurve, die es fast aus dem Gleichgewicht brachte, aber das Kind war unversehrt geblieben – Alix, deren Schritte die Angst beflügelt hatte, konnte es deutlich sehen.

Ob dem Jungen der Schreck in die Glieder gefahren war oder ob er sich einbildete, es sei ihm doch irgend ein Unheil widerfahren … er blieb jedenfalls platt am Boden liegen und fuhr fort, aus vollem Halse zu schreien.

Inzwischen war auch der Radfahrer abgesprungen, hatte sein Fahrzeug gegen den nächsten Baum gelehnt und war mit wenigen Schritten neben dem Knaben. Mit einem derben Ruck faßte er ihn, hob ihn am Kragen seiner Jacke in die Höhe und schüttelte das leichte Körperchen in der Luft so energisch hin und her, als sei es nur ein Bündel Kleider. „Du heilloser Schlingel – wie konntest du mir so in den Weg laufen? Weißt du auch, daß ich dich hätte zu Tode fahren können, oder dir Arme und Beine zerbrechen … und was wär’ dann gewesen? Hör’ auf zu brüllen, du nichtsnutziger Bengel! Verstanden?“

Alix stand seitwärts, während sich dies Strafgericht über dem Haupt des Schuldigen entlud. Der Radfahrer war so ganz mit dem Delinquenten beschäftigt, daß er der jungen Dame gar nicht ansichtig wurde. Sie hatte volle Muße, ihn in Augenschein zu nehmen.

Trotz der wenig vorgerückten Jahreszeit war er nur in einen bequemen wollenen Anzug gekleidet, ohne Halstuch oder Ueberrock, als wäre man mitten im schönsten Lenz. Seine Gestalt war groß und ebenmäßig gebaut, kraftvoll und dabei geschmeidig, als wäre ihr jeder Sport ein willkommenes und leichtes Spiel. Das Haar unter dem weichen, eingedrückten Filzhut war braun und kraus, der kurzgehaltene Bart, der sich um Wangen und Kinn zog und unten zuspitzte, zeigte einen bedeutend helleren Farbenton. Weiteres konnte Alix von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen.

Die Kameraden des gestürzten Jungen waren furchtsam näher geschlichen und sahen aus einiger Entfernung dem über ihren kleinen Gefährten gehaltenen Standgericht zu.

„Nicht mehr brüllen sollst du, hab’ ich gesagt! Wem gehörst du denn, Schlingel, der du bist?“ Der Junge berührte jetzt mit seinen Füßen die Erde, aber die starke Hand hielt ihn immer noch mit eisernem Griff am Jackenkragen fest.

Es kam eine unverständliche Antwort.

„Was? Wer in aller Welt soll das verstehen? Sagt ihr mir’s, Jungens, wie heißt er?“

„Paul Semmling!“ „Dem Kornaufmesser Semmling sein dritter Jung’ ist das!“

„So? Na, wenn die übrigen Jungens vom Kornaufmesser Semmling auch so sind wie dieser, dann kann er sich ja gratulieren, dann hat er ’ne schöne Aufgabe vor sich! Er hat sich doch natürlich vor euch zeigen wollen mit dem, was er kann, nicht wahr? Er hat geprahlt, er käm’ noch gut hinüber – was?“

„Ja, das hat er!“ „Er hat gesagt, er rennt schneller wie ’s Rad!“ „Er meinte, wenn wir uns nicht trauen … er traut sich!“

„Ist auch was Schönes dabei herausgekommen! Nun kommt mal ’ran, Jungens, und merkt euch, was ich euch sage: wenn wieder mal irgend einer von euch – egal, wer es ist! – sich so was Verrücktes auf die Hörner nimmt und will sich mit Gewalt zu Schanden fahren lassen … dann leidet ihr das nicht, hört ihr? Dann nehmt euch den Schlingel ’ran und haut ihm gehörig die Jacke voll! Wollt ihr das thun?“

„Ja, das werden wir schon!“ „Dann hauen wir ihn!“

Der Radfahrer nickte billigend und sah dann strafend von seiner Höhe auf den kleinen Missethäter nieder, während er ihm mit seiner freien Hand nicht gerade sehr sanft den Schnee und Schmutz von den Kleidern klopfte. „Wie alt bist du, Paul Semmling?“

„Auf letzte Weihnachten bin ich – achte gewesen!“

„Acht Jahr! Du kannst gut werden, das muß ich sagen! Solch ein Knirps, solch’ ein Dreikäsehoch! Loslassen soll ich dich? Willst du vielleicht ohne Mütze und ohne Bücher nach Hause laufen, ja?“ Der Radfahrer bückte sich, hob die schwarze Pudelmütze des Jungen vom Boden auf, schlenkerte sie ein paarmal durch die Luft und stülpte sie ihrem Besitzer dann mit einem so kräftigen Druck auf den Kopf, daß sie ihm bis an die Augen rutschte.

„So, Jungens, nun helft ihm seine Sachen aufsammeln! Die Tafel ist zerbrochen? Na, wart’ ’mal“ – jetzt endlich ließ die Rechte den Kragen des Kindes los, fuhr in eine Seitentasche des karrierten Sakkos und brachte ein Portemonnaie zum Vorschein. „Hier – kauf’ dir ’ne frische Tafel und sonst noch was – spielst du mit Murmeln?“

„Ja, ich spiel’ mit Murmeln!“

„Dann also kauf’ dir welche. Nun macht, daß ihr wegkommt, Bande!“

Die Jungen stoben kichernd auseinander, einer von ihnen rief noch ein „Adieu!“ zurück. Paul Semmling, der Attentäter, lief so schnell ihn seine Füße tragen konnten.

Mit einem heitern Lächeln schaute ihnen der Radfahrer nach. Als er sich wandte, um sein Fahrzeug wieder zu besteigen, sah er neben sich eine junge Dame stehen, welche ihn mit Interesse betrachtete. Er nahm hastig den Filzhut herunter. „O, pardon, mein gnädiges Fräulein! Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Raimund Hagedorn!“

„Mein Name ist Alexandra von Hofmann!“

„Ich hatte die Ehre, Sie bei dem Leichenbegängnis Ihres Herrn Vaters zu sehen!“ Die ernste Miene stand diesem sympathischen Männergesicht ebensogut wie die lachende.

„Ich kann Ihnen nicht erwidern, daß ich mich Ihrer erinnere,“ entgegnete sie und sah ihm aufmerksam beobachtend ins Gesicht, „da bei meines Vaters Leichenbegängnis Hunderte zugegen waren und Sie mir nicht, wie die übrigen Herren Beamten, später einen Besuch abgestattet haben.“

Raimund Hagedorns Gesicht war zu ausdrucksfähig, um irgend einen unmittelbar empfangenen lebhaften Eindruck zu verbergen. Es zuckte ihm leicht um die Lippen, und zwischen den Augenbrauen bildete sich ein feines Fältchen.

„Haben Baroneß meinen Besuch erwartet?“

„Natürlich!“ erwiderte sie unbefangen. „Ebenso wie den der anderen Herren, die in der Kolonie Josephsthal beschäftigt sind. Um so mehr, als man mir gesagt hat, daß ich einen Verwandten mütterlicherseits in Ihnen zu begrüßen hätte!“

„Darf ich fragen, wer Ihnen diese Mitteilung gemacht hat?“

„Zunächst Herr Justizrat Ueberweg, sodann mein Vetter aus London, Herr Whitemore!“

„Und haben diese beiden Herren – – – aber gnädiges Fräulein wollen verzeihen! Ich darf Ihre Aufmerksamkeit in

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